Das Bolschoi-Theater ist baufällig

■ Ekaterina Tschemberdshi war die große Entdeckung auf dem Kasseler Komponistinnen-Festival / Ein Gespräch über die Arbeitsbedingungen von KomponistInnen in Moskau

In früheren Jahren waren Sportler und Künstler aus Osteuropa nur mit einem Begleittroß aus Betreuern und Aufpassern im Westen anzutreffen. In Kassel begegnete man der in Westeuropa bereits bestens eingeführten sowjetischen Komponistin Elena Firsowa nur noch mit einer stark reduzierten Betreuer-Combo: fürs Private ihr Mann, der Komponist D. Smirnow, und fürs Geschäftliche der „Repertoire -Berater für Konzert und Bühne“ ihres Verlages in der Bundesrepublik. Betrachtet man die bisherige Karriere der Firsowa, die fraglos eine außerordentliche kompositorische Erscheinung ist, so muß dieses deutsch-sowjetische Musik -Joint-venture bestens funktionieren.

Ungemanagt und allein hingegen kam die Moskauer Komponistin Ekaterina Tschemberdshi in die nordhessische Metropole gereist. Sie gab ein eindrückliches Klavierrecital mit Werken ihrer Kolleginnen E. Firsowa und G. Ustwolskaja. Mit der im gleichen Konzert aufgeführten Eigenkomposition Haiku wurde E. Tschemberdshi die eigentliche Entdeckung des Kasseler Festivals.

Ekaterina Tschemberdshi entstammt einer armenischen Familie und wurde 1960 in Moskau geboren. Sie besuchte die Hauptmusikschule und später das Konservatorium ihrer Geburtsstadt in den Fächern Komposition und Klavier. Ihr Kompositionslehrer war Sergei Balassanian. 1986 wurde sie in die „Union of Soviet Composers“ aufgenommen. Bis heute schrieb sie hauptsächlich Kammermusik und Solowerke. Vor kurzem hat sie eine Kammeroper fertigkomponiert.

Die bedrückende innenpolitische Lage in der Sowjetunion wird zum Rondo-Thema unseres Gespräches. Die explosive Atmosphäre, der eklatante Mangel an Grundnahrungsmitteln, der grassierende, teilweise militant wuchernde Antisemitismus - vieles mehr ließe sich anführen - würden das Leben einschneidend beeinflussen. „Das alte System ist kaputt, das neue funktioniert noch nicht.“ Obwohl der Stern Gorbatschows, „der erste geborene Politiker“, rapide im Sinken ist, denkt sie nicht an eine Übersiedlung in den Westen. Ihre Bindung an Moskau sei noch zu groß. „Trotzdem würde ich gerne einige Zeit hier leben, um Neues kennenzulernen. Vielleicht bin ich jetzt unvorsichtig, wenn ich sage, daß ich mich hier sicherer fühle.“

Selbst hier im Westen gibt es nur wenige freischaffende Komponisten der sogenannten E-Musik, die ausschließlich vom Komponieren leben können. Wovon lebt eine junge Moskauer Komponistin? „Man kann tatsächlich mit Komponieren Geld verdienen! Einmal im Jahr können wir unsere Arbeiten dem Kulturministerium verkaufen. Sehr schnell zu gutem Geld kommen kann man mit Filmmusik, die sehr gesucht ist. Seltener sind Aufträge von auswärtigen Verlagen.“

Wenn nun das Kulturministerium ein Werk kauft, was geschieht damit? Werden damit auch die Autorenrechte abgetreten?, fragte ich. „Ich weiß das eigentlich nicht genau, weil ich das selten mache. Es ist alles nur eine Formsache. Sie geben Geld und lassen uns in Ruhe. Gemacht wird nichts. Das ist ja das Traurige, daß unsere Musik gar nicht gebraucht wird. Das trifft mich sehr. Künstler und Komponisten genießen keine sehr hohe Achtung. Deshalb fühlt man sich schlecht.“ Dann kompostiert das Ministerium also quasi in einer großen Bibliothek neue sowjetische Musik? Sie lacht wieder: „Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht.“

Die Hoffnung, daß sich die Verhältnisse in der UdSSR verbessern werden, hat sie noch nicht aufgegeben? „In dieser Hinsicht bin ich keine Pessimistin, aber es wird wohl sehr lange dauern. Wir haben beispielsweise erstmals einen Kulturminister, der aus der Kultur kommt und Bescheid weiß. Er war Schauspieler. Es ist derzeit fast unmöglich, eine neue freie Kultur aufzubauen. Für uns Musiker ist es spürbar geworden. Wir können reisen, Kontakte pflegen etc.“ Die Lage im Land bleibt dennoch unbefriedigend. „Wir haben zu viel Zeit und zu viele, gute und wichtige Leute verloren. Diese Lücke läßt sich genauso schwer schließen wie die finanzielle. Seit der Oktoberrevolution ist in Moskau kein neuer Konzertsaal gebaut worden. Das Bolschoi-Theater oder der große berühmte Saal des Konservatoriums sind in einem derart desolaten Zustand, daß es gefährlich ist, sich dort aufzuhalten.“ Eine ernüchternde Inventur der aktuelle Kulturpolitik: Änderungswille bei fehlender Infrastruktur und leeren Kassen. Über diese Malaise helfen auch die schon vor Gorbatschow eingerichteten staatlichen Komponistenhäuser nicht hinweg, in die sich KomponistInnen zu ungestörtem Arbeit zurückziehen können.

In einem Staat, in dem KomponistInnen zeitgenössischer Musik offiziell entbehrlich sind, ist es für Ekaterina Tschemberdshi besonders wichtig, das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. „Das Wichtigste für mich ist es, einen Tisch zum Komponieren und ein Klavier zu haben. Bei Anfragen, ob ich nicht etwas schreiben könne, bin ich ganz glücklich.“

Lukas Meuli