Alles löst sich nicht

■ Ein Workshop im Rahmen der »Tollen Tage«

Die Vorankündigung versprach jedem, der sich darauf einließe, die Öffnung seiner Stimme, und zwar ohne direkt zu singen oder zu sprechen. Das klang zwar etwas gewagt, aber deswegen reizte es auch. Also entschloß ich mich, an einem Stimmworkshop unter Leitung von Nina Goede und dem Ensemble Opera Brut Berlin teilzunehmen.

Am Montag morgen, schon entnervt und nervös, nachdem es mit den Bussen nicht geklappt hat, fahre ich mit dem Taxi durch Bonnies Ranch, den Schildern folgend, bis heran zum Zelt. Es nieselt, während wir durch diese irgendwie tot und stillgelegt wirkende Backsteinkulisse des »Verrücktenidylls« fahren. Das Zelt bietet keinen besonders überzeugenden Anblick mit den leeren, verregneten Gartenstühlen, die drumherum stehen, kein Mensch ist zu sehen. Ich bedaure halb, das Taxi hinter mir wegfahren zu hören. Im Halbdunkel des Zeltinneren sehe ich drei Leute vor der Bühne stehen; ansonsten eine klamm-düstere Leere, hundert leere, aufgeklappte Stühle. Eine Patientin, die eine kleine Stoffpuppe auf dem Arm trägt, spricht mich an, sagt: »Nur wir zwei sind gekommen«, auf einen anderen deutend. Eine andere, offensichtlich Nina Goede, sagt, das sei wohl eine Fehlplanung gewesen, weil jetzt alle beim Essen seien — ob ich von der Klinik sei? Jedenfalls finde das Ganze um ein Uhr statt, ich könne ja solange in die Caféteria gehen.

Ich gehe hinaus, fühle mich etwas wackelig auf den Beinen; da es eine Art Wagnis für mich war hierherzukommen, hätte ich der straffen Organisation eines Workshops oder einer Darbietung bedurft, um meine Unsicherheit in eine Struktur, in eine Aktivität hineinfließen zu lassen.

Unterwegs zur Caféteria begegne ich einem Patienten, der etwas vornübergebeugt geht und singt: »Montag, Montag, Montag.« Ich grüße ihn mit einem »Hallo«, er erwidert den Gruß und streckt mir die Hand entgegen, er läßt die meine aber nicht mehr los, auch nicht nachdem ich sage: »Laß los!« Er streckt eine lange, bewegliche Zunge heraus und schnalzt mit ihr herum, wobei er mir auf den Bauch schaut. Sowie er seinen Griff lockert, mache ich mich los, woraufhin er sich energisch an den Schwanz greift und irgendeine zweifelhafte Aufforderung von sich gibt. Ich gehe mit einem mulmigen, aber ärgerlichen Gefühl weiter; wie es oft ist in überraschenden, hautnahen Situationen, fällt mir etwas ganz Abstraktes ein; die Worte »sexuelle Enthemmung« schießen mir durch den Kopf, helfen aber sowenig wie andere Symptomnamen, weil das Ganze eher wie der krasse Gegensatz zwischen verschiedenen Lebensstilen ist. Ich fühle mich beinahe unangenehm »normal«, so gekämmt, adrett, mit gleichermaßen geordnetem, »vernünftigem« Gesichtsausdruck.

Als ich wieder im Zelt ankomme, ist man noch bei den Vorbereitungen — eine Frau balanciert auf einer Leiter, andere werkeln auf der Bühne herum, während wir etwa zu zwanzigt in einem lockeren Kreis vor der Bühne sitzen. Ein weißgekittelter Arzt fährt einen Patienten herein, dem man den Unterkiefer wegoperiert zu haben scheint; die beiden gesellen sich in die Runde. In der Nähe sitzt ein älterer »Insasse« mit einer orangefarbenen Baseballmütze und einem abgewetzten Teddybären auf dem Arm; die Frau mit der Puppe steht etwas abseits und bleibt dort während der ganzen Veranstaltung stehen. Ein anderer geht mit seinem Ghettoblaster erst mal wieder raus, um dort in Ruhe noch etwas Musik zu hören, bevor es losgeht.

»Sowieso Scheißmusik!« grölt ihm eine jüngere Patientin hinterher. Der Arzt hakt nach, fragt, was ihr so an Musik gefalle; sie antwortet, daß sie sich nicht vorschreiben lasse, welche Musik sie höre. »Ich weiß schon, was hier für Musik gespielt wird!«

Ohne große Einleitung beginnt Nina Goede, die jetzt mit dem Mikrophon in der Runde sitzt, Geräusche zu machen, etwas wie »tukatukatuka!«; sie fordert uns auf, andere Vorschläge einzubringen, woraufhin eine Patientin neben mir vergnügt »hamahamahama!« kräht. Dies wird sofort ins Repertoire aufgenommen: Wir sollen alle versuchen, es zu wiederholen. Im selben Tenor geht es weiter; ein Lautgebilde führt zum anderen, vom Wiehern übers Schnalzen zum Hecheln, vom verschieden intonierten Lachen zum Trommeln mit der Stimme. Gemeinsam mit Nina Goede werden kleine Duette improvisiert. Es erinnert oft an das »sinnlose«, unmelodiöse Geblubber, das man zuweilen bei automatisierten Tätigkeiten von sich gibt, etwa beim Staubsaugen oder während man eine Telefonnummer aus den Gelben Seiten hervorsucht.

Während wir uns bemühen, irgendwelches Brummen, Summen, Grölen und Ächzen zu produzieren, schreitet eine jüngere Patientin ab und zu unvermittelt zum Mikrophon und sagt lakonisch: »Depeche Mode«, oder singt was von John Lennon. Es gibt auch einen anderen originellen Quertreiber, der anstatt des geforderten dadaistischen Lautes einfach die Eurovisionsmelodie oder An die Freude intoniert. Es gibt auch eine, die zwar alles mitzuverfolgen scheint, aber sich fortwährend hin- und herwiegt und ein rhythmisches, knarrendes Geräusch dazu macht. Nina Goede versucht immer wieder, dieses Geräusch mit einzubauen, imitiert es; aber die Frau versteckt dann sofort das Gesicht in ihrer Armbeuge. Sie ist mit ihrem privaten Tun einfach nicht zu verwerten für diesen Zweck, und es gefällt mir, wie unmißverständlich sie das ausdrückt. Langsam habe ich das Gefühl, daß der Workshop zur Selbstdarstellung von Nina Goede gerät, die uns mit französischem Flair (»une idée?« und das Mikro hängt einem schon ins Gesicht) zeigt, was sie kann. Aber das zieht nicht, ihr etwas showbizmäßiger Eifer geht manchmal ins Leere. Die »Jüngere« steht auf, geht ans Mikro und sagt: »Ich weiß nicht, was ich hier soll.« Sie lockert sich zusehends, geht immer wieder nach vorn und schreit sich die Wut aus dem Leib, gegen die Anstalt, die Ärzte (»Mörder!«), gegen irgendwelche »Erklärungen« von Therapeuten. Nicht alles läßt sich im reinen Akkord eines Stimmworkshops auflösen, auch nicht wenn es um ungewohnte Laute geht; alles war von infernalischem Vergnügen und von infernalischem Grauen untermalt, von Dissonanzen, die den Basso continuo dieser Veranstaltung bildeten, und es ist gut, daß er dominant war. Doris Bunch