: Auferstanden aus Ruinen
■ Die Fußballauswahl der DDR gewann in Belgien sensationell ihr 293. und letztes Länderspiel mit 2:0
Berlin (taz) — Tief beeindruckt war offensichtlich der belgische Fußballverband von dem Privileg, das letzte offizielle Länderspiel der DDR veranstalten zu dürfen. 11.000 Zuschauern im „Van-den-Stock-Stadion“ von Anderlecht wurde die Nationalhymne der DDR vor Spielbeginn noch einmal in voller Länge mit allen drei Strophen dargeboten, und es sollte sich herausstellen, daß die Anfangszeile „Auferstanden aus Ruinen“ der ostdeutschen Auswahl an diesem weiteren historischen Tag geradezu auf den Leib gedichtet war.
Selbst Schiedsrichter John Blankenstein aus den Niederlanden schien angetan vom vergnügten Abgesang des DDR-Fußballs, ließ er doch insgesamt fast zehn Minuten länger spielen als gemeinhin üblich. Nachdem schon die erste Halbzeit 49 Minuten gedauert hatte, kostete er auch, als alles entschieden war und die Belgier nur noch pro forma auf das Tor des in der 90. Minute für den hervorragenden Karl-Marx-Städter Keeper Schmidt eingewechselten Hallensers Adler zurannten, die Nachspielzeit bis zur letzten Sekunde aus. Kurz zuvor hatte Matthias Sammer mit dem 501. Länderspieltor der DDR in ihrem 293. Spiel den sensationellen Triumph über die konsternierten Belgier perfekt gemacht. Nach einem klugen Steilpaß von Bonan war der Mittelfeldspieler des VfB Stuttgart am Verteidiger de Wolf einfach vorbeigerannt, hatte Torwart Preud'homme umkurvt und den Ball lässig zum 2:0 ins Netz geschoben.
Jeder, der vorher einen solchen Spielausgang für möglich gehalten hätte, wäre glatt für verrückt erklärt worden. Die Belgier hatten sich schließlich noch vor wenigen Monaten als eine der besten Mannschaften der WM in Italien präsentiert und rechnen sich gute Chancen auf die EM-Qualifikation aus, obwohl sie sich mit dem Weltmeister aus Deutschland höchstpersönlich in einer Gruppe befinden. Die DDR wiederum, seit ihrem ersten Länderspiel im Jahre 1952, das gegen Ungarn mit 0:3 verloren wurde, äußerst selten durch spektakuläre Taten aufgefallen, schien so abgehalfert, daß sich nicht einmal das DDR-Fernsehen zu einer Direktübertragung aufraffen mochte.
Nachdem eine Woche zuvor noch alle eingeladenen Spieler aus Ost und West ihr Kommen bestätigt und auch deren Trainer grünes Licht gegeben hatten, hatten sich in den letzten Tagen die Absagen gehäuft. Jedesmal, wenn bei Trainer Eduard Geyer das Telefon klingelte, brach ihm der kalte Schweiß aus — meistens völlig zu Recht. Thom, Kirsten, Doll aus der Bundesliga; Steinmann, Lindner, Heyne, Halata aus der Oberliga stellten plötzlich fest, daß sie ja eigentlich verletzt waren, nur Rainer Ernst vom 1. FC Kaiserslautern fiel aus dem Rahmen und erklärte unumwunden, daß er ganz und gar nicht motiviert sei, noch einmal im DDR- Trikot aufzulaufen. Nachdem zu guter Letzt sogar Spieler aus Rostock und Leipzig absagten, die noch vor wenigen Wochen nicht im Traum an die Chance eines Länderspieles gedacht hätten, blieben gerade mal vierzehn Kickwillige übrig, davon nur drei mit mehr als sechs Länderspielen auf dem Buckel. In Anderlecht wurde gemunkelt, daß das Trainergespann Geyer-Vogel, das ornithologischste der Welt, für alle Fälle die Fußballschuhe mitgebracht habe.
Von den Fußballern aus der DDR, die mittlerweile in der Budnesliga für Furore sorgen, war ausgerechnet der gekommen, der bei Dynamo Dresden nicht unbedingt das beste Verhältnis zum damaligen Coach Eduard Geyer gehabt hatte: Matthias Sammer. „Die Begegnung in Brüssel ist schließlich ein Länderspiel, und wenn ich dazu eine Einladung erhalte, folge ich ihr auch“, meinte der Neu-Schwabe, fand es dann allerdings doch ziemlich „frustrierend“, als er das traurige Häuflein erblickte, das sich in Kienbaum zur Vorbereitung eingefunden hatte. Sammers Kommen lohnte sich jedoch. Neben Torwart Schmidt und Belgiens Regisseur Enzo Scifo war er der beste Mann auf dem Platz, schoß beide Tore und zeigte sich hinterher geradezu begeistert: „Es machte Spaß, in dieser jungen Elf zu spielen.“
Überhaupt war es eine muntere Partie. Die Belgier, für die es ein wichtiger Test in Hinblick auf das erste Qualifikationsspiel im Oktober gegen Wales werden sollte, begannen, angetrieben vom dynamischen Scifo, die DDR-Abwehr mit schnellen Kombinationen zu verwirren, und Scifo prüfte Torwart und Pfosten mit zwei prächtigen Fernschüssen. Die DDR konnte sich nur selten befreien, einzige Chance blieb ein knalliger Distanzschuß Sammers, der aber genau in den Armen von Preud'homme landete.
In der zweiten Halbzeit wollte der belgische Trainer Guy Thys dann „eine Reihe junger Leute testen“, und es zeigte sich, „daß sie noch nicht so weit sind“. Die Auswechslung Scifos raubte den Belgiern ihr Gehirn, und fortan lief kaum noch etwas zusammen. Entsprechend gefährlicher wurden die Konter der DDR. Nach einer sehr schönen Kombination, die die belgische Abseitsfalle aushebelte, kam Heiko Bonan vom FC Berlin in der 74. Minute zum Flanken, und Sammer wuchtete entschlosen sich selbst und den Ball ins Netz.
„Es hätte schon einer Topform unserer Mannschaft bedurft, gegen diese DDR zu gewinnen“, komplimentierte Thys anschließend, während Eduard Geyer aufblühte wie seine gefiederten Namensvettern nach Entdeckung eines besonders delikaten Kadavers. „Das hätte ich ihnen nie zugetraut“, jubelte er, „ich ziehe den Hut vor meinen Spielern.“
Nach dem Coup von Brüssel erhebt sich nun die pikante Frage, welche Mannschaft Geyer zum prestigeträchtigen endgültigen Abschiedsspiel der DDR am 21. November in Leipzig gegen die Bundesrepublik auf den Rasen schicken wird. „Am liebsten eine Oberligaauswahl — mit einer Ausnahme“, deutete er in Anderlecht an. Und der durch die Absagen ebenfalls schwer erzürnte Eberhard Vogel hatte den Abtrünnigen schon vor dem Belgien-Spiel schelmenhaft gedroht: „Ändere nie eine siegreiches Team.“ Matti Lieske
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