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Kambodscha im Auf und Ab des Tonle Sap

Erstmals zeitigen die Kambodscha-Verhandlungen um den UNO-Friedensplan konkrete Erfolge, dennoch läuft der Regierung in Phnom Penh die Zeit davon/ Kommt Washingtons Spitzkehre nach dem Ende der Ost-Solidarität zu spät?  ■ Von Henrik Bork

Der Fluß hat eine Kehrtwende vollzogen und fließt plötzlich in die andere Richtung. Der Tonle Sap, der hier gestern noch nach Süden geflossen ist, vorbei an den sich waschenden Rikscha-Fahrern, schwimmenden Restaurants und der Uferpromenade mit ihren Zuckerpalmen, vorbei an Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, kilometerbreit, träge als ob er ewig so weiterströmen wollte, nur um sich ein Stückchen flußabwärts im Mekong zu verlieren — dieser Fluß fließt jetzt nach Norden, „flußaufwärts“, seiner eigenen Quelle entgegen.

Noch bevor ich Zeit habe, nach einer Erklärung zu suchen, werde ich von einem der täglichen Gewitterschauer vertrieben. Die Regenzeit hat begonnen. Kambodscha, der Tonle Sap ist ein Beweis: „Hier mußt du vorsichtig sein, darfst nicht einfach deinen Augen trauen!“

Ein guter Vorsatz auch für die Fahrt nach Kompong Speu, eine Provinzhautpstadt etwa 50 Kilometer südlich von Phnom Penh. Schnell, fast ein wenig zu schnell hatte das Außenministerium die Genehmigung erteilt. „Sehen Sie die Flüchtlinge dort?“ fragt Song Heng, mein Dolmetscher und Aufpasser, „sie sind vor den Roten Khmer davongelaufen.“ Der klapprige Wolga, mit dem wir fünf Kilometer weiter die Nationalstraße 4 verlassen und seitdem zielsicher jedes Schlagloch einer Lehmpiste getroffen haben, hält vor einem Dutzend wackeliger Pfahlbauten. Rundherum sieht man nichts als unübersichtliches Gestrüpp bis zum Horizont, den die Elefantenberge begrenzen. Dort beginnt der Einflußbereich der Roten Khmer.

Seit die vietnamesische Armee das mörderische Pol-Pot-Regime im Januar 1979 stürzte und die Roten Khmer in den Dschungel jagte, führen sie, in einer Zweckkoalition mit Prinz Sihanouk und Son Sann, einen blutigen Guerilla-Krieg gegen die von Vietnam eingesetzte Regierung in Phnom Penh. Allein 45.000 Mann sollen die Roten Khmer unter Waffen stehen haben, der kambodschanische Ex-Monarch Sihanouk mindestens 15.000 und der Nationalist Son Sann weitere 10.000 Soldaten. Die Truppenstärke der Regierung wird auf etwa 90.000 geschätzt. Doch von schwer zugänglichen Bergregionen und sicheren Rückzugsgebieten an der thailändisch-kambodschanischen Grenze aus zermürben die Rebellen die kambodschanische Armee mit immer neuen Attacken: „hit and run“ heißt die Devise.

„Sie haben uns mit Gewehrkolben geschlagen und gezwungen, für sie zu arbeiten“, erzählt die junge Bäuerin Khut Van. Vor einer Woche sei sie hierhergelaufen, nachdem die „Pol Pots“, wie sie die Roten Khmer nennt, ihr Heimatdorf Pring Korng im Bezirk Oral erobert hätten. Während sie spricht, suchen ihre Hände Halt an dem zwei Monate alten Jungen auf ihrem Schoß. Die Augen hält sie die ganze Zeit über auf den Dolmetscher gerichtet. Die Roten Khmer hätten das Dorf überfallen, übersetzt er weiter, und sofort alle jüngeren Männer als Munitionsträger an die thailändisch-kambodschanische Grenze verschleppt. Die anderen Dorfbewohner seien zur Zwangsarbeit in die Felder getrieben worden. Sie hätten Reis ernten und mahlen müssen.

Propaganda- fluß

Während der Dolmetscher redet wie ein Wasserfall, muß ich an den Fluß denken. So sprunghaft wie der Tonle Sap ändert in diesem schmutzigen Bürgerkrieg auch der Informationsfluß immer wieder seine Richtung. Während die vier kriegsführenden Parteien und ihre Geldgeber auf internationalen Konferenzen in Paris, Tokio und Jakarta die Machtverteilung für die Zeit nach dem Krieg aushandeln, werden der Presse Potemkinsche Dörfer vorgeführt.

Auf der Suche nach Informationen geraten Journalisten oft in den Strudel dieses Lügenmeeres. Das jüngste Beispiel lieferte ein amerikanischer Reporter. Er durfte Kämpfer der Roten Khmer in der von ihnen eroberten Provinzhauptstadt Steung fotografieren. Die Regierung in Phnom Penh hatte den Verlust des Ortes bis dahin hartnäckig geleugnet. Doch die Roten Khmer drehten ihrerseits ein Video, das den Reporter auf dem Marktplatz von Steung zeigt. Der Film wird nun in Bangkog als Beweis für den militärischen Erfolg der Rebellen vorgeführt, obwohl Regierungstruppen Steung schon nach kurzer Zeit zurückerobert hatten.

Kein Wasser kein Fisch

Die Menschen in den Hütten bei Kompong Speu sind Flüchtlinge, daran gibt es keine Zweifel. Die Bäuerin Khut Van, ihr Mann und ihre zwei Kinder teilen sich mit zwei weiteren Familien eine notdürftig aus Palmblättern errichtete Hütte. Da es in der Nähe kein Trinkwasser gibt, muß es in Plastik-Kanistern auf Ochsenkarren herbeigeschafft werden. Mehr als 7.000 Menschen kampieren hier. Manche haben als Unterkunft nur ein viereckiges Stück schwarzer Plastikplane über dem Kopf, gespendet vom Internationalen Roten Kreuz. Ob sie vor den Roten Khmer geflüchtet sind oder durch erzwungene Umsiedlungen der Regierung zu Flüchtlingen geworden sind, ist unklar. Diese Aktionen, von denen in letzter Zeit häufig zu hören war, sollen angeblich den Roten Khmer ihre Basis in der Bevölkerung entziehen. „Kein Wasser, kein Fisch,“ nennt das ein Diplomat in Phnom Penh, in Anlehnung an ein berühmtes Mao-Zitat.

Sicher ist nur, daß immer mehr Kambodschaner zu Flüchtlingen werden. Allein 113.570 innerhalb des von der Regierung Hun Sen kontrollierten Gebiets zählte die englische Hilfsorganisation „Oxfam“. In den vom Widerstand kontrollierten Lagern an der Grenze zu Thailand harren mehr als 300.000 Menschen aus. Und immer mehr Kambodschaner haben in den vergangenen Monaten als „Boat People“ die waghalsige Flucht in kleinen Fischerbooten über das Meer versucht.

So plötzlich wie der Fluß Tonle Sap haben auch die USA Mitte Juli eine Kehrtwende vollzogen: Sie wollen der Widerstandskoalition die Anerkennung entziehen. „Wir werden alles tun, um einen Rückkehr der Roten Khmer an die Macht zu verhindern“, sagte Außenminister James Baker in Paris und das, nachdem die USA jahrelang alles getan haben, um ihnen die Rückkehr so leicht wie möglich zu machen. Eine Allianz aus Amerikanern, West-Europäern und Chinesen hatte elf Jahre lang die Widerstandskoalition mit Geld und Waffen versorgt. Allein die USA sollen 15 Millionen US Dollar Gesamthilfe geleistet haben. Der Westen zahlte zwar niemals direkt an die Roten Khmer, sondern an die nichtkommunistischen Widerstandsgruppen. Doch jeder weiß, daß Pol Pot seine Guerilla aus den Flüchtlingslagern an der Grenze rekrutiert und über Mittelsmänner in Thailand und Singapur auch an westliche Waffen gelangt. Der chinesische Macchiavelli Deng Xiaoping, der angeblich jedesmal ausspuckt, wenn er das Wort Vietnam aussprechen muß, soll die Roten Khmer nach Schätzungen der CIA mit 100 Millionen US-Dollar jährlich unterstützen.

Jetzt, wo die Roten Khmer wie hier in Kompong Speu offenbar vor den Toren der Hauptstadt stehen, ist guter Rat teuer. Das war nicht eingeplant, weder in Peking, noch in Washington. Denn die Rückkehr des Massenmörders Pol Pot mit Unterstützung der USA ließe sich im kommenden Wahlkampf schwer erklären. Zwar wechselt das Kriegsglück in Kambodscha seit jeher so regelmäßig wie Ebbe und Flut: Mit dem Beginn der Regenzeit rücken die Roten Khmer vor, in der Trockenzeit können die Regierungstruppen wieder mit Panzern zurückschlagen. Doch nun hat die Sowjetunion das Ende ihrer Unterstützung für die bei ihr mit 700 Millionen Rubel verschuldete Regierung in Phnom Penh angekündigt. Und schon geht den Soldaten Hun Sens die Munition aus. Ob die „Wende um 180 Grad“, wie das 'Time Magazine‘ die Äußerung Bakers nannte, noch früh genug kommt, ist in dem Propagandanebel schwer zu erkennen.

Verminte Zukunft

Für Nop Hen kommt sie zu spät. Er ist letzte Woche auf eine Mine getreten. Im Provinzkrankenhaus von Kompong Speu liegt der 63jährige Bauer auf einem kargen Holzbett. Es gibt weder Matratze noch Bettzeug. Nur eine dünne Bastmatte liegt über dem Lattenrost. In dem weiß gekachelten Raum stehen noch vier weitere Betten. Angehörige kauern neben den Kranken auf dem Steinfußboden. Eine junge Frau stöhnt ununterbrochen.

Nop Hens linkes Bein ist knapp unter dem Kniegelenk abgetrennt worden. Der Stumpf ruht auf einem schmutzigen Kissen. Mit leiser Stimme erzählt er, wie es passierte: „Ich ging zur Pagode außerhalb unseres Dorfes, um an den Gebeten zu Ehren des 100. Todestages eines buddhistischen Heiligen teilzunehmen. Auf dem Hinweg geschah nichts. Doch auf dem Rückweg, etwa 100 Meter von der Pagode entfernt... — die Mine war genau in der Mitte des Weges vergraben.“

„Das sind die kleinen chinesischen Plastik-Minen“, sagt Dr.Minh Sowoty, der Chefarzt des Krankenhauses, „da müssen wir nur den Unterschenkel abnehmen.“ Von den 119 Patienten, die derzeit hier behandelt werden, sind 38 Minenopfer. In der letzten Zeit ist die Zahl gestiegen. Manche Bauern erwischt es, wenn sie zum Holzschlagen in den Wald gehen, manche auf dem Weg zu ihrem Reisfeld. „Und natürlich trifft es auch manchmal einen Soldaten“, sagt der Arzt.

Das Blut wird weiter fließen, egal ob es bald einen Waffenstillstand geben wird oder nicht. Sechs Milionen Minen, so schätzt man, liegen in der kambodschanischen Erde vergraben. Etwa acht Millionen Kambodschaner laufen auf dieser Erde herum. Vergraben wurden die Minen von den US-flankierten Soldaten Lon Nols, der 1975 von der Roten Khmer gestürzt wurde, von den Roten Khmer, von den Regierungstruppen Hun Sens, von den Sihanoukisten und Nationalisten Son Sanns. All die treten auch drauf, am häufigsten aber Söhne und Töchter von Bauern.

„Wir können hier nur bei Tageslicht operieren“, sagt Dr. Sowoty. Immer wieder falle der Strom aus. Am dringendsten aber fehlten Medikamente, vor allem Antibiotika und Anti-Malaria-Mittel. Von dem Mangel an Ärzten spricht er gar nicht, so selbstverständlich ist das für ihn. Da die Roten Khmer während ihres Holocaust vor allem Angehörige der gebildeten Oberschicht systematisch ermordeten, lebten beim Einmarsch der Vietnamesen 1979 im ganzen Land nur noch 50 Ärzte. Warum das Rote Kreuz nicht mehr Medikamente zur Verfügung stelle, will ich wissen. „Ein Helfer vom Australischen Roten Kreuz hat früher jeden Monat zwei Koffer voll Medizin gebracht. Jetzt bringt er nur noch einen pro Monat.“ Warum wisse er nicht.

Diplomaten in Phnom Penh haben eine Antwort: In Kambodscha sei es allgemein bekannt, daß die Ärzte die Medikamente auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Ohnehin sei es in den meisten Krankenhäusern üblich, daß die Patienten die zu ihrer Behandlung nötigen Medikamente selbst mitbrächten. Wer sich aber darüber empören wolle, so der Diplomat, der müsse wissen, daß ein Arzt in Kambodscha so wenig verdiene, daß er davon kaum seine Familie ernähren könne.

Phnom Penh im Auftrieb

Pünktlich wie jeden Nachmittag setzt der Monsunregen ein. Doch das gleichmäßige Rauschen wird plötzlich von Maschinengewehrsalven zerrissen. Mein Dolmetscher Song Heng lacht, als er den Schrecken in meinem Gesicht sieht. „Sie schießen nur auf die Wolken“, sagt er. „Sie glauben, dann hört der Regen auf.“ Und das Hämmern der Artillerie, das vom Fluß herüberdröhnt? „Wirklich“, sagt er, „eine alte Unsitte in Phnom Penh, mehr nicht.“ Tatsächlich werden wegen dieser Unsitte immer wieder Schwerverletzte in die Krankenhäuser der Stadt eingeliefert: Die in die Luft gefeuerten Gewehrkugeln fallen senkrecht herunter und durchschlagen dann ohne weiteres jede Schädeldecke.

Abgesehen von solchen Vorkommnissen könnte man den Krieg in Phnom Penh leicht vergessen. Die Stadt führt ihn nicht, sie läßt ihn führen — von den Bauernsöhnen. Zwar gibt es offiziell die Ausgangsperre, die von neun Uhr abends bis morgens um fünf dauert. „Aber damit wollen wir den Leuten in der Stadt nur klarmachen, daß wir uns im Krieg befinden“, sagt Khieu Kanharith, Mitglied der Nationalversammlung. „Wir können den Unterschied zwischen Stadt und Land nicht noch größer werden lassen“. Zwar kommt es von Zeit zu Zeit vor, daß ein Militär- Lastwagen plötzlich auf einem Marktplatz hält, alle jungen Männer auflädt und an die Front karrt. Doch wer genügend Geld hat, kommt wieder frei. Ein Studienplatz an der Universität, der vor der Einberufung bewahrt, kostet im Fach Medizin fünf bis sechs Tomlöng Gold, das sind etwa 2.500 bis 3.000 US-Dollar.

Der Tanz auf dem Vulkan findet jeden Abend im sechsten Stock des Hotel Monorome statt. Die Band spielt laut und gut: Rock, Tango, Chachacha und die Schlager der Saison. Die Jeunesse Dorée von Phnom Penh tanzt im Gleichschritt eine Disko-Version des indischen Apsara. An den Tischen besaufen sich die Kinder der Regierungskader, Offiziere und zurückgekehrte Exil-Kambodschaner. Leere Bierdosen werden nicht abgeräumt, sondern stolz zu Türmen gestapelt. Am Tisch der Journalisten erfährt man, welcher Reporter wieder fast auf eine Mine getreten wäre, wer auf einem Flug von Delhi nach New York von einer Cobra gebissen wurde oder andere wichtige Dinge. „Vietnamese girl or Khmer girl?“ fragt der Zuhälter. Um elf Uhr, zwei Stunden nach Beginn der Ausgangssperre, ist der Spuk vorbei.

Wenn die Sonne wieder aufgeht, hat sich die Stadt abgeschminkt. An jeder größeren Straßenecke haben die Benzinverkäuferinnen ihre Tankstellen aufgebaut: ein kleiner Tisch mit dem üblichen Sortiment an in- und ausländischen Zigaretten, ein paar mit Zweitakter-Gemisch gefüll-

te Fanta-Flaschen und ein Trichter. Wenig später knattern ihre Kunden auf Tausenden von Honda-Mopeds über die ungeteerten Straßen, schieben die Rikscha-Fahrer auf ihren dreirädrigen „Cyclos“ ganze Familien vor sich her und inhalieren dabei die Abgase der Jeeps und Militärlastwagen.

„Es ist unglaublich, wie sich diese Stadt in den letzten Monaten verändert hat“, sagt Alan Boyd, Südostasien-Korrespondent der australischen Zeitung 'The Nation‘. „Als ich das letzte Mal hier war, war das ein verschlafenes Nest. Jetzt fühle ich mich wie zu Hause in Bangkok. „Teng Leng, Motorradhändler in der 107. Straße am Stadtrand, zeigt mit einer weit ausholenden Geste um sich. Hinter ihm stehen sauber aufgereiht mehr als 1.000 Mopeds, vor ihm steht seine Goldwaage. Etwa 1.000 US-Dollar kostet so ein Gefährt. Manches hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Mindestens zwei Vorbesitzer sind schon darauf gebraust. Von Singapur aus hat es eine zweitägige Seereise nach Kompong Som und eine Bootsfahrt den Mekong herauf überlebt.

Uy Sitha, der Nachbar, ist privater Autohändler und verkauft pro Tag mindestens einen Toyota, handelt aber auch mit deutschen, französischen und koreanischen Marken. „Ich sehe optimistisch in die Zukunft“, sagt er, mit seiner Goldwaage spielend. Der Mercedes 230 in der Ecke ist ein bißchen eingestaubt. Er ist mit 35.000 US-Dollar nicht für jedermann erschwinglich, obwohl auffallend viele Wagen dieses Modells herumfahren. „Mercedes ist gut, aber zu teuer“, findet Herr Uy.

Auch der Abteilungsleiter für Außenhandel im Handelsministerium trägt den Nachnamen Uy. „Die Menschen sind sehr zufrieden mit unserer neuen Politik“, sagt Herr Uy. Denn im Mai dieses Jahres hat die Regierung Hun Sen begonnen, ihren Sozialismus zu entrümpeln und verkündete eine weitgehende Liberalisierung der Wirtschaft. Die freien Märkte haben seither wieder aufgemacht, vollgestopft mit Waren aus Thailand, Singapur, Vietnam und China. Was kurz zuvor noch Schwarzmarkt hieß, ist jetzt legal. „Was ist an diesem Land eigentlich noch sozialistisch?“ ist eine von Besuchern oft gestellte Frage.

Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ausländische Investoren, die mit diesen Kurskorrekturen angelockt werden sollten, haben um Kambodscha bisher einen großen Bogen gemacht. Zwar wären die niedrigen Löhne und Steuern durchaus ein Anreiz, doch zu groß ist die von Amerika und den anderen westlichen Ländern auferlegte Isolation des Landes, und zu unsicher die militärische Lage. So zählt Kambodscha immer noch zu den ärmsten Ländern der Welt, vergleichbar etwa mit Bangladesch.

Die jüngere Geschichte Kambodschas hat so abrupte Richtungswechsel beschert, wie sie von allen Flüssen der Welt wohl nur der Tonle Sap vollzieht. Der letzte liegt gar nicht so weit zurück. „Am 17. April 1975...“, beginnen hier alle Geschichten so unausweichlich, wie alle Märchen mit „es war einmal“ beginnen. Am 17. April 1975 marschierten die Kämpfer der Roten Khmer in Phnom Penh ein und stürzten das von den USA unterstützte Regime des General Lon Nol, das Sihanouk 1970 zu Fall gebracht hatte. In den ersten Stunden freuten sich die Menschen und jubelten ihnen zu, denn endlich schien der Krieg vorbei zu sein. Von Peking aus hatte Sihanouk in einer Koalition mit den Roten Khmer das Lon-Nol-Regime bekämpft.

Doch sofort begannen die Roten Khmer damit, alle zwei Millionen Bewohner aus der Stadt zu evakuieren. Ihrer maoistischen Ideologie zufolge waren Städte nichts als Brutstätten des Lasters, der Korruption und der „imperialistischen Verschwörung“. Wie einst die grausamen Herrscher von Angkor wollten sie mit riesigen Sklavenheeren Dämme aufschütten, um das Überschwemmungsgebiet des Mekong zu regulieren. Beinahe die gesamte Oberschicht des Landes — Ärzte, Lehrer, Professoren, Kaufleute — wurden liquidiert. Als der Versuch, in einem gewaltsamen Sprung den „Neuen Menschen“ zu schaffen, nach dreieinhalb Jahren von den Vietnamesen beendet wurde, waren mehr als eine Millionen Kambodschaner ums Leben gekommen — durch erschöpfende Zwangsarbeit, Unterernährung und Massenmord.

„Am 17. April 1975 mußte ich über die Nationalstraße 1 die Stadt verlassen“, beginnt auch Oum Parany ihre Erzählung.

Der Zufall und nicht das Besuchsprogramm will es, daß ich mich vor einem plötzlichen Regenguß unter das Vordach der 40jährigen Frau flüchte. Der Rikscha-Fahrer kann Englisch und dolmetscht für uns: Oum Parany war Filmschauspielerin, früher, vor der Pol-Pot-Zeit. Heute lebt sie mit ihren zwei Kindern in einem garagenähnlichen Raum am Boulevard Achar Mean. Die 20 Quadratmeter Schlaf-, Eß- und Wohnzimmer für die ganze Familie dienen zugleich als Abstellkammer für reparaturbedürftige Kühlschränke. Die geschiedene Frau erzählt von ihren Filmen, davon, wie sie sich und ihre Kinder jetzt durchschlägt, indem sie in einer Druckerei arbeitet und in ihrer Freizeit Hochzeitskleider schneidert.

Doch dann kehrt der Strom der Erinnerungen unweigerlich zu jenem 17. April zurück. „Zuerst zwangen mich die Roten Khmer, im Reisfeld zu arbeiten. Ich war das nicht gewöhnt und es war sehr schwer für mich. 1978 beschuldigten sie mich plötzlich, eine Tendenz zum Kapitalismus zu haben: meine Haut sei so weiß. Sie brachten mich ins ,Tuol Sleng‘-Gefängnis in Phnom Penh.“

Spuren des Terrors

Die vier noch immer mit Stacheldraht umgebenen Gebäude heißen heute „Völkermord-Museum“. „Bruder Nummer Eins“, wie Pol Pot sich damals nennen ließ, verwandelte das ehemalige Gymnasium in eine Folterstätte. Die Roten Khmer, die sich im Laufe ihrer Schreckensherrschaft immer weiter in einen absurden Verfolgungswahn steigerten, erpreßten hier Geständnisse von angeblichen „CIA-Agenten“. Im Hof liegen 14 weiße Grabsteine der letzten Opfer, deren Leichen die Vietnamesen einige Tage nach ihrem Einmarsch am 7. Janunar 1979 fanden. Ihre Namen sind nicht überliefert, denn ihre Körper waren von der Folter so deformiert, daß sie nicht mehr zu identifizieren waren.

Wohl aber gibt es Photos von ihnen. Die hängen an den Wänden der jeweiligen Folterkammer, in der man sie fand. Auf den Bildern erkennt man verdrehte, blutverschmierte Gliedmaßen, die einmal zu einem menschlichen Körper gehört haben müssen.

Auch die Roten Khmer haben photographiert. Jeder neue Häftling wurde mit einer Nummer vor der Brust dokumentiert und regisriert. In fünf Sälen hängen Hunderte, Tausende dieser Photos: Nummer 56, Nummer 287, Nummer 349, Mädchen und Jungen, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Männer, Greise. Alle mußten während der Aufnahme in die Kamera schauen. Es ist schwer, ihre Blicke zu ertragen.

In einem anderen Saal sind die Folterinstrumente ausgestellt: Spaten, Spitzhacken, Sägen und aus Stromkabeln geflochtene Peitschen in einer Glasvitrine. Daneben Wasserkübel und eine Streckbank. Am Ende des Rundgangs wird der Besucher aufgefordert, seine Eindrücke in ein Buch zu schreiben. Es enthält Eintragungen in vielen verschiedenen Sprachen. Ein Wort, daß immer wieder vorkommt, ist in allen Sprachen gleich: Auschwitz.

Zwischen 20.000 und 30.000 Menschen wurden in „Tuol Sleng“ in der Regel drei Monate lang gefoltert, dann auf einem der „Killing Fields“ vor der Stadt getötet. Nur sechs Menschen überlebten „Tuol sleng“. Man hatte sie ganz einfach vergessen — eine von ihnen war Oum Parany. „Sie steckten mich in eine Zelle, die ein Meter mal fünfzig Zentimeter groß war“, sagt sie. „Sie wollten mich töten. Als ich ihnen erzählte, daß ich Schauspielerin war und nicht Agentin, gingen sie in mein Haus und sahen nach. Sie fanden Photos. Weil ich nicht gelogen hatte, stellten sie meine Hinrichtung zurück. Aber sie haben mich weiter geschlagen.“ Oum Parany beugt ihren Kopf und schiebt mit den Händen ihre dichten, schwarzen Haare auseinander. Drei lange, tiefe Narben weist die Kopfhaut auf. Die Frau ertastet sie eine nach der anderern mit den Fingerkuppen. Der Rikscha- Fahrer sucht nach einem Wort. Schließlich geht er zum Tisch und nimmt das Kabel einer Lampe in die Hand.

Oum Parany fährt fort, bis ich alle Narben gesehen habe: die von der breiten Schnittwunde am linken Oberarm, die von den ausgedrückten Zigaretten auf dem Bauch und auf der linken Brust. Nach einer quälend langen Pause, in der nur das Rauschen des Regens zu hören war, reden wir über belanglose Dinge, und es ist wie eine Erholung. Als es aufhört zu regnen, will der Rikscha-Fahrer weiter.

Friedens- pläne

Der Mensch, in dessen Namen diese Grausamkeiten geschehen sind, lebt heute wieder im thailändisch-kambodschanischen Grenzgebiet, erfreut sich bester Gesundheit und bis dato der Unterstützung des mächtigen China: Pol Pot. Die Wirtschaftsblockade, mit der die USA aus keinem anderen Grund als zur Pflege ihrer anti-vietnamesischen Neurose seit elf Jahren die Regierung Hun Sen am Boden hielten, arbeitete zu seinen Gunsten. Vertreter der Roten Khmer sitzen dank ihrer Beteiligung an der Widerstandskoalition noch immer in der UNO-Vollversammlung. Und auch der derzeit aktuelle Friedensplan, der die Bildung eines Obersten Nationalrates sowie bis zu freien Wahlen nach dem Vorbild Namibias die Bildung eines Obersten Nationalrates vorschlägt, sieht die Beteiligung der Roten Khmer an der Macht vor. Kann man mit Massenmördern Frieden schließen? Dazu Long Visalo, Vize-Außenminister in Phnom Penh: „So lange es Druck aus dem Ausland auf die Roten Khmer gibt und sie eine solche Lösung akzeptieren, sollten auch wir dem internationalen Kontrollmechanismus vertrauen.“ Und die Verantwortlichen, sollen sie ungestraft davonkommen? Long Visalo: „Man sollte es so machen wie in Nürnberg und die Verbrecher vor Gericht stellen. Aber bis es so weit ist, sollten wir jede Lösung akzeptieren, auch wenn die Roten Khmer daran beteiligt sind. Denn sonst bekommen wir keinen Waffenstillstand und wie soll das Volk dann wählen können?“

Diplomatisches Erbe

Einer zumindest hat hier am Ufer des Tonle Sap sein Fähnchen nicht in den Wind gehängt und ist seinen Überzeugungen treu geblieben: Rolf Dach, aufrechter SED-Mann und Botschafter der DDR in Phnom Penh. Leider treffe ich ihn nicht an, denn seit einiger Zeit wartet man hier schon darauf, daß er aus seinem Heimaturlaub zurückkehrt. Und niemand wagt eine Prognose, ob er jemals zurückkommen wird.

Unterdessen kümmert sich der zweite Mann der DDR-Botschaft ganz im Sinne der kommenden Wiedervereinigung um die erste deutsch- deutsche Delegation, die hier aufgetaucht ist. Die Bundestagsabgeordnete Ingrid Walz, FDP, ist angereist, um das Erbe zu begutachten, das ein wiedervereinigtes Deutschland als Rechtsnachfolger der DDR in Kambodscha antreten könnte. Während andere Politiker lieber am Wolfgangsee liegen, hat sie sich auf die Reise in die nordwestliche Provinzhauptstadt Battambang gemacht, im Schlepptau eine Reihe von DDR- Wirtschaftsexperten und einen Marine-Offizier der NVA. Dort in Battambang hat die DDR seit 1988 eine Berufsschule für Elektriker, Kfz- und Landmaschinenschlosser finanziert. Nun sind die Fachlehrer abgezogen worden, und die drei mal 25 Schüler werden von den kambodschanischen Dolmetschern unterrichtet.

„Ich will versuchen, eine Nicht- Regierungs-Organisation dafür zu gewinnen, zwei Meister nach Battambang zu senden“, versichert Ingrid Walz. Daß sich sämtliche DDR- Helfer so plötzlich aus dem Staub gemacht haben, ist für die Kambodschaner ein harter Schlag. Im Krankenhaus „17. April“ in Phnom Penh haben bisher sechs DDR-Ärzte als Chirurgen und Anästhesisten gearbeitet. Jetzt sind sie weg. Die DDR hatte Kambodscha nach der Invasion der Vietnamesen als erster Staat überhaupt anerkannt und hatte, so lange es die Ost-Mark gab, etwa 200 Millionen Mark Entwicklungshilfe gezahlt. „Auf Solidaritätsbasis“ hieß das. Damit rangierte sie an dritter Stelle gleich nach der Sowjetunion und Vietnam.

Kann jetzt die DDR-Botschaft einfach von einem wiedervereinigten Deutschland übernommen werden? Eine Frage für Völkerrechtler. Kambodscha und Nordkorea sind die einzigen Länder, in denen die DDR eine Botschaft unterhält, die Bundesrepublik jedoch nicht diplomatisch vertreten ist. In Bonn hat man Vize- Außenminister Long Visalo erst vor kurzem vertröstet: „Man hat mir gesagt, die Probleme der Wiedervereinigung seien sehr groß.“

Die Regierung Hun Sen, sie mag so korrupt sein, wie sie will, hat seit 1979 gewaltige Anstrengungen unternommen, das nahezu vollständig zerstörte Land wiederaufzubauen. Bis heute gibt es keine einzige Brücke über den Mekong. Durch die Bombenteppiche des Indochinakrieges und später des Bürgerkrieges war die Infrastruktur zerstört. Annähernd 200.000 Waisenkinder sind zu versorgen. Die Kindersterblichkeitsrate ist die höchste der Welt.

Während über vierzig Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) wie Oxfam, das Australische oder Französische Rote Kreuz in dieser schwierigen Situation seit Jahren Hilfe leisten, ist die reiche Bundesrepublik mit keiner einzigen NRO anwesend. Ingrid Walz: „Für die 300.000 Flüchtlinge an der Grenze, die bestimmt ein schlimmes Los haben, hat die Bundesrepublik Millionen und Abermillionen gegeben. Für die Menschen, die in Kambodscha leben, bisher sehr wenig. Diese Differenz gilt es, auszugleichen.“

Der einzige Bundesbürger, der in Phnom Penh gegen den Strom schwimmt, medizinische und landwirtschaftliche Entwicklungshilfe leistet, ist Norbert Klein. Doch er vertritt keine deutsche, sondern eine internationale Organisation: den Lutherischen Weltdienst. „Es wäre dringend nötig, daß man sich in den entsprechenden Stellen in der Bundesrepublik mit der Situation hier vertraut macht. Sie ist völlig anders als vor elf Jahren, als die Vietnamesen hier einmarschierten.“

Norbert Klein ist es auch, der mir das Geheimnis des Tonle Sap erklärt. „Wenn der Mekong in der Regenzeit von einem Rinnsal zu einem gewaltigen Strom anschwillt, bildet sich ein Rückstau: Der Tonle Sap kehrt um und beginnt, den See an seinem Oberlauf zu füllen.“ Und nach der Regenzeit? „Da fließt er wieder in die andere Richtung.“

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