Exhibitionismus, Masochismus?

■ Also doch: Marathon hat weder mit Kunst noch Überleben zu tun

Eigentlich hätte es eine Diskussionsveranstaltung werden sollen auf dem Marathon-Workshop am vergangenen Freitag. Das Motto klang höchstinteressant philosophisch: Laufkunst — Überlebenskunst. Doch ein inkompetenter Moderator, Hans-Dieter Frankenberg, entlockte den TeilnehmerInnen — sechs MarathonläuferInnen unterschiedlichen Alters und Leistungsniveaus — nur lobhudelnd deren Biographien; eine kritische Diskussion brachte er nicht in Gang.

Es blieb im Dunkeln, was Laufen mit Kunst oder gar Überleben zu tun hat. Gewiß gab es da den Rehabilitations-Patienten, der nach einem Herzinfarkt durch Maß und Vernunft beim Training heute imstande ist, 42 Kilometer zu laufen und zu überleben, doch nur auf ihn konnte sich der Titel der Veranstaltung nicht bezogen haben.

Indes, man war sich einig: Laufen ist schön, dient der Entspannung, der Selbstwahrnehmung und der Sensibilisierung gegenüber dem eigenen Körper und ist obendrein kommunikativ. Kommunikativ? Hier endlich griff eine der geladenen Kompetenzen, Professor Sack vom sportpsychologischen Institut der FU Berlin, differenzierend ein: Läufer entwickeln unterschiedliche Strategien beim Laufen, die mehr oder weniger kommunikativ sind. Die assoziative Strategie stellt die Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit in den Vordergrund, der Läufer befindet sich auf dem »Egotrip«, Kommunikation unerwünscht. Die dissoziative Strategie dient der Ablenkung vom eigenen Körper. Unterhaltung soll gelegentlich auftretendes Wadenzwacken in den Hintergrund drängen. Je nach Mentalität neigt der Läufer der einen oder anderen Strategie zu.

Daß laufen tatsächlich ein besinnlicher Sport ist, der den Läufer seinem Körper näher bringt, weiß mancher, der regelmäßig durch den Wald joggt. Doch ist da nicht ein Unterschied zwischen maßvollem Joggen und einem 42-Kilometer-Asphaltlauf? Das Bedürfnis nach Besinnlichkeit jedenfalls kann es nicht sein, das 25.000 Menschen sich zusammenrotten läßt, um dicht an dicht an den Augen der ZuschauerInnen vorbeizuziehen. »Ist es Exhibitionismus?« Die provokante Frage des Moderators — seine einzige — blieb unbeantwortet. Ein Läufer, 84jährig, sagt: »Es ist ein großartiges Gefühl, Sieger über sich selbst zu sein.« Also Masochismus?

Unbestritten entwickelt sich der Trend hin zum immer schnelleren Marathonlauf und zur immer höheren Leistung. Gerade in Berlin ist dieser Trend unverhältnismäßig stark. Gab es früher noch Jedermannläufe ohne Zeitmessung, so gehört inzwischen die Ergebnisliste zu jedem Volkslauf dazu. Professor Sack bringt das Leistungsprinzip mit einem bestimmten Lebensstil in Verbindung, »der geprägt ist von Ehrgeiz, Konkurrenzdenken und Aggressivtät. Bestimmter Sport unterstützt diesen Lebensstil.«

Ein Gesundheitsideal, das heute oft gleichgesetzt wird mit Sportlichkeit und Aktivität, verleitet viele Freizeitsportler dazu, sich zu überfordern. Dieser Leistungsdruck jedoch bewirkt häufig gerade das Gegenteil des angestrebten Zieles, nicht gesunde Fitneß, sondern Überlastung und Krankheit. Frauen unterwerfen sich diesem Leistungsprinzip weniger als Männer. Dies mag eine der vielen Ursachen sein für die sonst zu beklagende weibliche Unterrepräsentanz — nicht einmal zehn Prozent Frauen waren gestern am Start —, die sogar positiv anmutet. Daniela Hutsch