: Umfallen darf ein Wachsoldat nicht
■ Mario Kindler (21) war Wachsoldat vor der Neuen Wache/ Die nötige »Disziplin« hat er als Zimmerer auf dem Bau gelernt/ Einen Wespenstich muß man als Wachsoldat schon aushalten
Mitte. »Viele denken, wir sind 'ne Elitetruppe — stimmt jar nich!« Mario Kindler, 21 Jahre und seit Mai Wachsoldat vor der neuen Wache Unter den Linden, rückt seine Mütze zurecht. Er hat soeben seine beiden Kameraden beim Wachwechsel begleitet. Jetzt steht der Wehrpflichtige zwischen Touristen und Schaulustigen und wird mit Fragen bombardiert. Knapp aber korrekt erklärt er zum x-ten Mal den Ablauf der Zeremonie und wieviel Übung dafür nötig ist. Immer höflich bleiben — diesen Grundsatz hat ein Wachsoldat zu verinnerlichen, und Mario Kindler hält sich dran.
Persönliche Worte sind aus ihm nur schwer herauszukriegen. Statt dessen gibt er seinem Lebenslauf einen Anstrich, als gipfele er in der NVA. Zimmerer hat er gelernt und das Leben auf dem Bau. Da war die Umstellung auf die Volksarmee keine große Sache. Übungen um sechs Uhr morgens haben ihn nicht entsetzt. Auch das Exerzieren im Stechschritt und mit Gewehr findet der gebürtige Berliner gar nicht schlecht. Beim Wachregiment Friedrich Engels ist er gelandet, weil er eben diese Disziplin zur Zufriedenheit eines Kompaniechefs beherrschte. »Manche stellen sich eben dusselig an, die kommen nich in Frage«, ist seine Ansicht.
Anfangs waren natürlich auch seine Eltern öfter mal »kieken«, wie ihr Junge sich in der Uniform macht, erzählt er mit unterdrücktem Stolz und rückt sich noch etwas aufrechter in Pose. Daß er vor dem Mahnmal Unter den Linden Wache schiebt, gefällt seiner Familie und natürlich auch der Freundin. Auch wenn — was er immer wieder betont — daran überhaupt nichts besonderes sei.
»Ab und zu fällt auch mal jemand um, weil er das lange Stehen nicht aushält.« Ihm ist das noch nie passiert. Das einstündige reglose Stehen mit starrem Blick geradeaus ist für Mario Kindler reine Routine. »Det is allet 'ne Frage der Disziplin. Wenn da 'ne Wespe kommt und dich stechen will, mußte eben den Pickser aushalten.«
Seiner Ansicht nach ist der Wachdienst sowieso ziemlich lau. »Det is, als wenn du zur Arbeit jehst: morgens kommste, abends jehste wieder.« Nur, daß das Zuhause die Kaserne ist und seine elf Kameraden vom Wachregiment ihm permanent Gesellschaft leisten. Daß er die ersten zwei Wochen nach seiner Vereidigung überhaupt nicht nach Hause durfte, findet er normal. »Früher durften Soldaten erst nach vier Monaten zum ersten Mal nach Hause.« Für ihn Beweis genug, daß es seinem Jahrgang gut geht bei der Armee.
Der Gedanke, den Wehrdienst zu verweigern, ist ihm nie gekommen. »Da gab's ein paar in der Truppe, die ham 'nen Zivilantrag gestellt.« Länger als nötig will aber auch Kindler nicht in der Kaserne bleiben. »Ick bin Zimmerer und det will ick och bleiben.« Angst vor der Zukunft hat er keine. »Gekündigt bin ich zum Glück noch nich.« Deshalb will er nach Ablauf seines Wehrdienstes am 26. April 1991 zurück an den Bau.
Bis zur Entlassung muß er noch einmal die Uniform wechseln. Die Klamotten der Bundeswehr liegen schon in der Kaserne. Bei der NVA oder der Westarmee zu dienen, ist ihm einerlei. Was ihm aber gar nicht gefällt, ist die Tatsache, daß die Wachtruppe höchstwahrscheinlich endgültig aufgelöst wird, nachdem sie vergangene Woche ihren Dienst vorläufig einstellen mußte. Die Zeit als Wachsoldat hat Kindler genossen, denn »Ehrenposten müssen doch wat darstellen«, sagt er. Und das hat er wohl getan. Christine Berger
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