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Büchsen, Steine, Leuchtraketen

■ Die letzte Saison im DDR-Fußball sieht Randale in mehreren Städten: Spielabbruch in Leipzig, Feuerwerk in Karl-Marx-Stadt, und Hartwigs Schiedsrichter-Schelte: „Kleines Schweinchen“

Leipzig/Berlin (dpa) — Die von Rowdies ausgelöste, brutale Welle der Gewalt auf den Rängen und in den Innenstädten hat den DDR-Fußball in seinen letzten Tagen vor der deutschen Wiedervereinigung in eine schwere Krise gestürzt. Am Samstag erzwangen Zuschauer- Ausschreitungen in der Oberliga den Abbruch des Spiels zwischen Sachsen Leipzig und dem FC Jena in der 83. Minute. In Halle mußte das Treffen gegen Magdeburg unterbrochen werden, ehe Ruhe auf den Rängen einkehrte. In Karl-Marx-Stadt stand am Freitag die Begegnung mit Tabellenführer Rostock vor dem Abbruch, als Feuerwerksraketen abgeschossen worden waren.

In Leipzig entzündete sich die explosive Lage in der Schlußphase. Als WM-Schiedsrichter Siegfried Kirschen zunächst das Jenaer Tor trotz angeblicher Abseitsstellung anerkannte und danach den Leipziger Ausgleich wegen Abseitsstellung für ungültig erklärte, flippten die Besucher aus. Dazu trug sicher auch bei, daß in der DDR zwar Alkoholverbot in den Stadien herrscht, sich die Zuschauer aber unbehelligt vom ohnehin kaum vorhandenen Ordnungsdienst mit Bierdosen ins Stadion begaben. Nach Kirschens umstrittenen Entscheidungen flogen Flaschen, Büchsen und Steine aufs Feld.

Als die Stimmung bedrohlich eskalierte, mußte die Polizei eingreifen und die Spieler beim Stand von 1:0 für Schlußlicht Jena gegen den Zweiten Sachsen Leipzig in die Kabinen leiten. Die Kabine der Gäste wurde mit Leuchtraketen und Steinen angegriffen, die Jenaer mußten in den Keller flüchten. Als Kirschen 30 Minuten nach dem Abbruch den Platz unter Geleitschutz endlich verlassen konnte, war sein Wagen an der Nummer erkannt und völlig demoliert worden. Kirschen sagte zum Abbruch: „Die Sicherheit der Spieler war nicht mehr gewährleistet.“

Das sah Leipzigs Trainer Jimmy Hartwig ganz anders. „Er hat sich benommen wie ein kleines Schweinchen“, leistete er sich im „Sportstudio“ des ZDF ein üble Entgleisung. In der Bundesliga wäre ihm ein Auftritt vor dem Sportgericht des DFB bei DFB-Ankläger Kindermann und eine saftige Sperre sicher. Hartwig blieb aber auch nach der Sendung bei seinen Worten: „Es ist mir völlig egal, ob es in der DDR einen Kindermann gibt. Ich stehe zu der Aussage.“ Jenas Trainer Bernd Stange, früher einmal Chef der DDR-Auswahl, war entsetzt über die Vorfälle in Leipzig: „So etwas habe ich noch nicht erlebt und möchte es nicht mehr erleben. Die Entscheidung wird jetzt am grünen Tisch fallen. Ich gehe davon aus, daß uns die Punkte gutgeschrieben werden.“

Auch in Ost-Berlin war es am Freitagabend wieder zu Gewalttaten auf dem Alexanderplatz gekommen, nachdem es im Stadion beim 1:0 des FC Berlin vor nur noch 750 Zuschauern gegen Lok Leipzig diesmal relativ ruhig geblieben war. Eine Woche zuvor hatten rund 500 Rowdies nach einem Pokalspiel zwischen dem FC Berlin und Union Berlin schwere Krawalle entfesselt, die zu regelrechten Straßenschlachten in weiten Bereichen der Ostberliner Innenstadt geführt und in der Nacht auf den West-Berliner Bezirk Kreuzberg übergegriffen hatten.

Vor drei Wochen waren in Leipzig bei ebenfalls schweren Auseinandersetzungen Polizisten angegriffen worden; dabei hatte ein Polizist mit seiner Waffe scharfe Schüsse abgegeben und eine Person verletzt.

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