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Die Mauern von Berlin

■ und wie Cecil Taylor sie zum Fallen brachte. Eine Plattenkritik

Für Jazzkritiker war der Fall der Mauer einfach zu erklären: Cecil Taylor hatte Anfang November in Berlin gespielt, Vorarbeit im Sommer 1988 bei einem einmonatigen Workshop geleistet, in Konzerten in Ost und West, Duos mit fünf verschiedenen Schlagzeugern, mit einer Big Band, einem Workshop-Ensemble und kammermusikalischen Gruppen. Die Musik dieses Monats „ließ Ziegel und Mörtel bröckeln und verbog den Stacheldraht“, schrieb Gary Giddins in der New Yorker 'Village Voice‘, und das britische Jazzmagazin 'Wire‘ titelte biblisch: „And the walls came tumbling down“.

Sie alle beschrieben einen monumentalen, vorbildlich ausgestatteten 11-CD-Set, mit dem die Berliner Plattenfirma FMP die Konzerte dieses Monats dokumentierte. Noch nie sei der Arbeitsprozeß eines genialen Musikers und damit zugleich seine Person, sein Lebenswerk so angemessen gewürdigt worden, jubelten die Kritiker. Doch manche gaben auch zu: Das schiere Potential, die schiere Energie, die sich in der mächtigen schwarzen Box verbergen, konnte furchtsam machen und einschüchtern. Fast alle CD's liegen inzwischen auch einzeln vor. Dies mag die Schwellenangst nehmen, den Zugang erleichtern.

Zwei der fünf Schlagzeug-Partner Taylors sind Han Bennink und Günter Sommer. Beide gingen ganz unterschiedlich in die Auseinandersetzung mit dem Pianisten. „Wenn man ihm einfach folgt, wie viele das tun, gibt es zuviele Noten und zuwenig Klarheit. Ich setze mein ,System‘ gegen seins, dann entstehen auch neue Dinge“, sagt Han Bennink. Günter Sommer dagegen: „Worum es mir geht, ist [...] harmonische Strukturen zu entwickeln, die aber Raum und Zeit benötigen, um sich zu entfalten. Nun ist die Musik Taylors sehr, sehr dicht und ich mußte von diesen Vorstellungen einige Abstriche machen.“

Man kann die unterschiedlichen Konzepte hören. Bennink, bewußt auf einen Standard-Schlagzeug-Set beschränkt („Ich bin jetzt soweit, daß ich auch mit zwei Streichhölzern alles Nötige machen könnte“), beginnt allein, selbstbewußt, mit harten schneidenden Klängen, auf die Taylor erst nach geraumer Zeit antwortet — mit einem Schrei. Dann setzt Taylor Baß-Tremoli gegen das Schlagzeug, kommt zu minimalen Phrasen, die romantische kleine Linien werden. Die beiden lassen sich Zeit mit sich. Taylor baut die Intensität mit dynamisch und im Anschlag differenzierten Läufen konsequent auf, von Clustern wie Gong und Glockenschlägen durchbrochen, denen Bennink mal zuhört, mal sie zu einem perkussiven Gewitter von Tasten und Trommeln verstärkt... Und irgendwann hört der Versuch der Analyse auf. Man ist als Hörer mitten in der Musik, die Bewegung ausdrückt und fordert.

Im Duo mit Günter Sommer ist Taylor von Anfang an präsent und dominierend. Sommer schmiegt sich an, untermalt mit Röhrenglocken die spröden Läufe Taylors, akzentuiert dessen Rhythmen. Taylor scheint ihn zu ermuntern, bietet ihm rhythmische Figuren an, auf denen Sommer dann seine „harmonischen Strukturen“ entfalten kann. Dann verweben sich beide Instrumente. Meist bleibt Sommer aber, im Wortsinn, Begleiter auf Taylors Exkursionen.

Intensiv bis zur Schmerzgrenze ist das zweistündige Konzert Taylors mit seinem „European Orchestra“. In ihm spielt „eine Anzahl sehr starker musikalischer Individualisten, jeder in gewisser Weise ein ,Anarchist‘ [...] Cecil hatte totale Kontrolle über das Orchester“, sagt Trompeter und Mitspieler Tomas Stanko. (Taylors Kompositionsmethode schildert Jazzkritiker Steve Lake: „Das war schließlich ein Bündel Notationen von Melodien, Riff-artigen Figuren und ungeheuren Akkorden, die nach freiem Ermessen vom ,Sektionsleiter‘ in die orchestrale Klangmasse getrieben werden konnten.“ Die wilde Intensität der Musik klingt an).

Es beginnt sessionsartig, mit durchgehendem Baß- und Schlagzeug-Rhythmus. Zögernd schichten Bläser die ersten Klänge und Harmonien, nehmen sie zurück, und bauen dann weiter an der massiven Klangmasse, aus der sich Solisten, oft im Wechselspiel, befreien, wieder von ihr verschluckt werden, Individualität im Kollektiv untergeht. Taylor stachelt die an der emotionalen und spielerischen Leistungsgrenze agierende Gruppe zu einem nur von wenigen ruhigeren Stellen unterbrochenen furioso an. Himmel und Hölle, packend bis zur Erschöpfung.

Verdichtungen, die in der Big Band in fast unerträglicher Fülle da sind, fehlen weitgehend in der Trio-Aufnahme mit dem Cellisten Tristan Honsinger und dem Saxophonisten Ecan Parker. Die Musiker umspielen einander, ziehen Duette dem Trioformat vor, Taylor hält sich zurück. Sanfte, filigrane Kammermusik.

Schließlich Erzulie Maketh Scent: Cecil Taylor, allein mit sich und dem Flügel. Mit statischen, mal stakkato, mal mit Pedal-Hall gespielten Akkorden, kurzen Läufen, Pausen bannt er die Aufmerksamkeit. Dann legt er eine kräftige Baßfigur als Fundament und Sprungbrett für die Läufe der rechten Hand, die gleich darauf variiert, von beiden Händen parallel über die ganze Weite der Tastatur geführt werden. Minutenlang ballen sich unglaubliche Synthesen aus Akkorden/Clustern/Läufen, die Kategorien werden sinnlos im Sturm eines Spiels, das oft durch die linke Hand noch kompliziert rhythmisch-harmonisch strukturiert wird. Zwischendurch erlaubt Taylor dem Hörer Momente der Illusion, wenigstens teilweise nachvollziehen zu können, was er wie spielt, um ihn Bruchteile von Sekunden später vollkommen zu überraschen. Aber nie herrscht ein Gefühl von Hetze, von Gehetztsein. Das ist nicht Chaos, sondern beherrschte Form, kontrollierter Ausbruch von Kreativität, das Erschaffen neuer Flügel- Welten.

Nach diesem siebzigminütigen Akt entspannt Taylor das Publikum durch zwei heitere, nur minutenlange Zugaben, die die Schönheit seiner Musik wie in einer Miniatur bergen. Scheinbar leichte, fließende Klänge, realisierbar nur durch tiefes Vorstellungsvermögen und stupende Technik. Carlo Ingelfinger

Cecil Taylor: mit Han Bennink (Spots, Circles, And Fantasy, FMP CD 5), mit Günter Sommer (Riobec, FMP CD 2), mit dem European Orchestra (Alms/ Tiergarten [Spree], FMP CD 8/9), mit Tristan Honsinger und Evan Parker (The Hearth, FMP CD 11), solo (Erzulie Maketh Scent, FMP CD 18).

Weitere Aufnahmen aus dem Workshop in Berlin zwischen 17. Juni und 17. Juli 1988: mit den Schlagzeugern Paul Lovens (Regalia, FMP CD 3), Louis Moholo (Remembrance, FMP CD 4), Tony Oxley (Leaf Palm Hand, FMP CD 6) und noch einmal mit Günter Sommer (In East Berlin, FMP CD 13/14). Mit dem Gitarristen Derek Bailey (Pleistozaen mit Wasser, FMP CD 16).

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