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Marx und Hegel unterwegs

■ Die Philosophische Praxis auf Ostdeutschlands Straßen

Der Thüringer im blauen Anorak erregt sich: »Ich will Ihnen mal eins sagen: Wissen Sie, was die heute machen? Wir haben hier HO und Konsum, und die machen eine Preistreiberei, die machen uns und sich selber kaputt. Hier taugt doch alles nichts. Das ist meine Meinung. Wir haben nur die Schnauze halten müssen. Und ich will euch noch eins sagen: Honecker, der könnte noch zweitausend Jahre leben, so gut geht's dem.« Seine Frau sucht ihn zu beruhigen.

Gäbe es nicht auch etwas jenseits des Ökonomisch-Politischen, wollen »Marx« und »Hegel« wissen. Eigentlich nicht. »Kommerz und Konsum haben gesiegt«, sagt ein junger Mann. — »Und die Preistreiberei!« meint der Thüringer und erinnert sich daran, daß er vergeblich im SED-Staat den Steppenwolf von Hermann Hesse gesucht habe, und fragt mit großer Geste: »Was haben wir von Sex gewußt?« und antwortet: »Von der Biene bis zum Schmetterling, das haben wir doch gewußt! Heute. da kaufen wir Pornoheftchen, da kommen die kleinen Kinder und gucken sich das an. Wir sind doch nur verarscht worden.«

Im Juli verkleideten sich Willi Czarnezcki und Alexander Dill von der Philosophischen Praxis (West) als »Marx« und »Hegel«, unterhielten sich im Straßentheater als Marx und Hegel (Aktion) und fragten die Passanten in Weimar, Potsdam und Ost- Berlin nach ihrer Philosophie, nach dem Wirken der Vernunft in der Geschichte; »ob die Deutschen in Ost und West sich das Prädikat, Denker oder Dichter zu sein, illusionshaft zuschreiben oder der Ruf noch berechtigt ist, war eine der Ausgangsfragen dieser Aktion«. So fragten sie auch nicht so sehr, sondern ließen die Leute reden. Nicht ohne zuvor die örtliche Presse informiert zu haben, versuchten sie, »das philosophische Gespräch auf öffentlichen Plätzen zu führen«. Was geschah, wurde auf Video dokumentiert, geschnitten, transkribiert und am Dienstag im Keller der Akademiebuchhandlung am Platz der Akademie in Ost-Berlin gezeigt.

Zu hören und zu sehen waren dann weniger Gespräche als Stellungnahmen, manchmal wunderschöne Monologe, die auch am Parteienwerbestand oder bei einer Fernsehumfrage, die die Leute ausreden lassen würde, entstanden sein könnten. »Der Mensch sollte sich morgens freuen, daß der Tag beginnt«, oder: »Persönlichkeit ist etwas Gutes, das Schlechte kommt immer von der Gesellschaft«, und vor allem: Der Dumme ist immer der kleine Mann.

Die Philosophie auf die Straße bringen zu wollen und dabei zu filmen scheint so künstlich zu sein wie das Reden zweier Studenten über Kant in der U-Bahn nach dem Philosophieseminar. Vielleicht noch künstlicher, da es in den Aktionen der Philosophischen Praxis eher um das Sprechen-Machen ging als um das Gespräch. Wenn jemand, der sich als »Prolet« oder »Arbeiter, wie man hier so sagt«, vorstellt und sich über die Ungerechtigkeit aufregt, die man »ausmerzen« (ein Wort, das häufiger fällt) müsse, antworten weder Marx noch Hegel — jedenfalls im Film —, sondern es folgt ein Kommentar aus dem Off: »Der Diskurs des Arbeiters macht betroffen...« Wenn jemand christliche Platitüden von sich gibt, wie es auf der Straße, die man aus dem Fernsehen kennt, eben naheliegt — »wir müßten doch nur die Zehn Gebote befolgen«, dann wäre alles in Ordnung —, steht »Marx« als väterlicher Weihnachtsmann daneben und gibt ab und an ein desinteressiertes »natürlich« oder »so, so« zu Protokoll.

»Immer wieder konnten wir ihn zum Diskurs ermutigen«, heißt es im Film, und eher unfreiwillig stellt sich so die Philosophische Praxis in die Reihe abendländischer Beichtpraktiken: Es gibt einen, der kann die anderen zum Sprechen bringen, ob er Beichtvater, Psychoanalytiker, Interviewer oder eben philosophischer Aktionist ist. Der, der die Leute zum Sprechen bringt, redet auch (eigentlich fragt er meist), doch er redet in seiner Funktion; er redet als verkleideter Marx, nicht als Marxist.

In seiner Funktion redet gemeinhin auch der bezahlte Philosoph in der Universität, ob es nun um den Verlust der Werte, Kategorien, Postmoderne, um Foucaults Sexbücher, Bataillesche Exzeßtheoreme oder um diverse Skandalons geht. Vortragsschnipsel eines gesamtdeutschen Nietzsche-Kongresses, den die Philosophische Praxis zusammen mit der Akademie der Wissenschaften und der Humboldt-Universität veranstaltet hatte, haben Alexander Dill und Genossen den Straßenbefragungen entgegengestellt. Zumeist sieht man männliche Vortragende und Zuhörer, die manchmal einnicken, wenn Norbert Bolz vom Institut für Hermeneutik an der FU braungebrannt Nietzsches Gedanken erläutert, daß die Bösen klüger sein könnten als die Guten. Seine Gedanken über die Zukunftsperspektiven ausgebildeter Philosophen, die keinen Platz an der Universität finden und sich so genötigt sehen, die Philosophie wieder auf die Straße zu tragen, hatte der sportliche Diskogänger vor einiger Zeit an anderer Stelle veröffentlicht: Philosophen, so meinte er, sollten sich der Touristikbranche als Gruppenunterhalter zur Verfügung stellen. Ob das gutgeht, ist zu bezweifeln, denn Denken, so meint zumindest ein Drogenfreund, würde nur zum Trübsalblasen führen. Der gleichen Ansicht war auch die BVG, die eine Plakataktion der Philosophischen Praxis gestoppt hatte, weil, wie der Marketingmann der BVG sagte, derjenige, der sich Fragen wie: »Wer bin ich, was soll ich tun, was darf ich hoffen und wohin fahre ich?« stellen würde, »selbstmordgefährdet« sei. Detlef Kuhlbrodt

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