: War Edgar der Friedfertige ein Mörder?
■ Wissenschaftler der Cambridge-Universität spüren einem möglichen Mordfall von vor 1.000 Jahren nach
Edgar der Friedfertige, einer der großen angelsächsischen Könige, ist nach über 1.000 Jahren unter Mordverdacht geraten. Wie in einem echten Ermittlungsverfahren untersuchen derzeit Wissenschaftler des Corpus Christi College in der englischen Universitätsstadt Cambridge die Möglichkeit, daß Edgar im Jahre 959 seinen Bruder Eadwig umgebracht und sich dessen Thron bemächtigt hat. Wichtigstes Indiz für die mutmaßliche Bluttat: Nachträgliche Veränderungen in der ältesten Chronik Englands, dem Anglo-Saxon Chronicle.
Die Technik des 20.Jahrhunderts — insbesondere neueste Spürmethoden von Scotland Yard und Entwicklungen für die amerikanische Raumfahrt — brachte Mildred Budny und ihre Forscherkollegen auf die Spur des möglichen Brudermords. Auf dem aus Kuhhäuten gefertigten Pergament der alten Chronik fanden sie die Eintragung „Edgar folgte seinem Bruder auf den Thron“.
Sie sahen aber auch, daß der Chronist erst mehr geschrieben, später aber einige Wörter mit dem Messer weggekratzt und andere darübergeschrieben hatte. Jetzt glauben die Wissenschaftler, herausgefunden zu haben, daß im Altenglisch der damaligen Zeit erst notiert worden war: „Edgar tötete seinen Bruder und bestieg den Thron“. Eadwig verschwand tatsächlich im Alter von 16 Jahren aus der Geschichte, nach einer mysteriösen Rebellion, die auch sein Teil-Königreich in das 959 entstandene Reich seines gleichaltrigen Bruders Edgar übergehen ließ.
„Hoffentlich wissen wir bald genau, was da mit Tinte geschrieben war und ausgekratzt wurde. Dann wissen wir mehr über Eadwigs Schicksal“, meint Budny. „In der Zwischenzeit versuchen wir in den vielen anderen Schriften der Zeit Anhaltspunkte zu finden, ob Edgar eine solche Tat überhaupt zugetraut werden kann, suchen also Zeugen für Edgars Leumund, wie man es in einem Gerichtsverfahren machen würde.“ Historisch gesichert ist, daß der im Alter von 31 Jahren gestorbene Edgar (944-975) weitreichende Reformen einführte, die als Grundlage für das zum Teil heute noch gültige angelsächsische Recht dienten.
Daß die Berichterstatter der damaligen Zeit — Mönche und königliche Chronisten — immer wieder unter dem Druck von oben ihre Wahrheitspflicht verletzten, zeigt sich auch an anderen Stellen des Anglo- Saxon Chronicle, den es in sechs Kopien gibt. Da wurde einmal das Datum eines wichtigen angelsächsischen Sieges über eingefallene Wikinger nachträglich verändert. Wenn die Schlacht bei Sandwich wirklich erst 851 stattgefunden hätte und nicht 845, als sie tatsächlich geschlagen wurde, hätten andere einen rechtlich Anspruch auf die Beute anmelden können als der Sieger Athelstan und sein Clan.
Auch die Beutepolitik kirchlicher Kreise blieb nicht ohne Einfluß auf die Chroniken. Infrarot-Beleuchtung und spezielle Fototechnik förderten jetzt wieder Wörter zutage, wonach die Gebeine Dunstans, des großen angelsächsischen Heiligen, dem Kloster Glastonbury vermacht wurden — nicht aber Canterbury. Der hat sich die Gebeine gesichert und unter anderem auf diesen Besitz seinen Führungsanspruch im kirchlichen England gestützt.
Manchmal griff die Zensur auch aus Gründen der Imagepflege ein. So wurde die Darstellung von König Edmunds Tod — möglicherweise auf Druck seines Sohnes Edgar — von unliebsamen Details verschont. Der große Schlachtenheld, dessen Sieg über die Wikinger in der Chronik in Versen beschrieben wurde, starb als Mordopfer eines kleinen Einbrechers. Dem Königshaus müssen die Umstände des Todes von Edmund (921-946) so wenig eines Helden würdig erschienen sein, daß man beschloß, sie unter den Teppich zu kehren.
Daß in der Chronik die Stellen nachträglicher Eingriffe deutlich erkennbar sind, störte die Verfälscher der damaligen Zeit wenig. Denn was sie der Nachwelt verheimlichen wollten, kommt erst jetzt, 1.000 Jahre später, ans Licht, und auch das noch nicht völlig eindeutig und erst mit Hilfe ausgefeilter Technik. Edgar Denter/dpa
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