piwik no script img

„Das kann nur Gott sein oder die CIA“

■ Wie entstehen Psychosen, wie sind sie zu behandeln?/ Ein Gespräch zu den Hintergründen des Attentats auf Innenminister Schäuble mit Dr. Linden, Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin/ „Wahninhalte aus der Zeitung“

taz: Was geht in einem Menschen vor, der plötzlich beschließt, jemanden zu töten? Dieter Kaufmann, der Schäuble-Attentäter, sprach von seinen „inneren Schmerzen“, fühlte sich „vom Staat verfolgt“.

Michael Linden: Ich weiß nicht, woran Dieter Kaufmann leidet, da sind eine ganze Reihe von Differentialdiagnosen denkbar. Aber daß es Menschen gibt, die sich verfolgt fühlen und sich irgendwann einmal gegen ihre vorgeblichen Verfolger wenden, das ist nichts Außergewöhnliches. Das gehört beispielsweise in das Bild einer paranoiden Psychose. Zum Glück wird diese Idee eher selten umgesetzt. Denn eine gezielte Intentionalität ist bei diesen Erkrankungen in der Regel nicht da. Deshalb bleibt es meistens bei der Idee, ich werde verfolgt — vom Stasi, von der CIA, vom KGB, von meiner Mutter, von der Nachbarin. Gewöhnlich fehlt der Drive und die Fähigkeit, die Gedanken entsprechend zu ordnen. Psychisch Kranke werden deshalb auch weniger gewalttätig oder überhaupt kriminell auffällig im weitesten Sinn als der Rest der Bevölkerung. Dazu gibt es sehr präzise Zahlen. Aber hin und wieder kommt es leider zu solchen Unglücksfällen.

Auffällig ist, daß es in den USA viele solcher Attentate gab, hierzulande aber bisher nicht.

Das ist richtig. Aber die Wahninhalte sind relativ beliebig. Die hängen zum Beispiel davon ab, was in der Zeitung steht. Schon mit der Öffnung der Mauer änderten sich die Wahnthemen. Solange die Mauer dicht war, gab es ständig Leute, die sich damit auseinandersetzten. Sei es, daß sie „drüben“ aufräumen wollten, sei es, daß sie glaubten, sie selbst befänden sich in der DDR. Die jeweiligen Wahnthemen hängen auch damit zusammen, was einem bekannt ist. Warum hat sich Kaufmann den Schäuble vorgenommen und nicht den Stoltenberg? Schäuble kommt aus der gleichen Gegend, die Wahlplakate mit seinem Konterfei hängen überall, auch im Bürgermeisterzimmer des Vaters, wie die Medien berichteten. Die Wahninhalte sagen einem also viel über den jeweiligen biographischen Hintergrund, aber die Inhalte sind für die Störung nicht spezifisch. So können Menschen mit einem religiösen Hintergrund einen religiösen Wahn bekommen, da ist dann der Teufel hinter ihnen her. Techniker haben es mit Strahlen. Ob sich ein Patient nun vom Stasi oder von der CIA verfolgt fühlt, ist ziemlich egal.

Diese Geheimdienste scheinen sich aber hervorragend als Objekt zu eignen.

Die eigentliche Grundstörung bei dieser Psychose ist das Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen. Die Interpretationsfähigkeit ist gestört. Sehen Sie dort hinter sich. Da unten ist so ein Plastikfeld mit zwei Löchern drin. In dem Moment, wo Sie hinschauen, wissen Sie im Bruchteil von Sekunden, was das ist. Das ist aber eine sehr komplexe Leistung. Diese Fähigkeit des automatischen, kontextbezogenen Interpretierens von Stimuli ist nun gestört. Wenn es keine Steckdose ist, was könnte es dann sein? Da kommt man ins Grübeln. Könnte da eventuell Gas rauskommen? Ist da ein Mikrofon dahinter? Anfangs haben die Leute noch kein System, noch keine Erklärung. Sie fragen sich nur verzweifelt, was läuft denn hier.

Das muß ein grausames Gefühl sein.

Die Menschen haben vor allen Dingen Angst, furchtbare Angst. Stellen Sie sich vor: Löcher in der Wand, draußen Schritte, hinter ihnen eine merkwürdige Klappe, und Sie haben den Eindruck — hier geht was vor. Das kann nur Gott sein, der das alles zusammenbringt. Oder ein Geheimdienst. Vor allem in Zeiten, wo die Geheimdienste, wie jetzt die Stasi, in aller Munde sind, machen sich die Wahnsysteme daran fest.

Das erfahren Sie zur Zeit tatsächlich in ihrer Praxis?

Natürlich! Die Kranken beschäftigen sich mit genau denselben Sachen wie die Gesunden. Gesunde können das aber noch unter Kontrolle halten, die Dinge einordnen.

Gibt es denn eine Möglichkeit der Prävention?

Eine gute Behandlung durch einen guten Psychiater. Psychosen sind Nervenerkrankungen, die man behandeln kann und das ist eigentlich auch gar nicht so schwer. Das erfordern Sachverstand, Kenntnis, Einfühlungsvermögen. Und man muß natürlich die Möglichkeit haben, an die Leute heranzukommen.

Dieter Kaufmann war mehrmals in psychiatrischer Behandlung, auch während seiner Gefängnishaft. Er behauptet, in dem Haftkrankenhaus Psychofolter erlitten zu haben. Was ist davon zu halten?

Weder kenne ich das Krankenhaus, noch kenne ich den Patienten, noch weiß ich, was dort vorgefallen sein könnte. Deshalb kann ich mich nicht zu dem konkreten Fall äußern. Prinzipiell sind zwei Dinge denkbar. Zum einen kann sich solch ein Wahn auch gegen die Behandler richten. Zum anderen aber ist die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik nach wie vor so, daß sich einem Psychiater die Nackenhaare sträuben können. Die Psychiatrie ist immer noch das Schlußlicht. Die forensischen psychiatrischen Krankenhäuser, die Langzeitabteilungen und gar die Abteilungen, wo Sucht und Psychose zusammenkommen, die sind das absolute Schlußlicht. Die baulichen Voraussetzungen, die Bezahlung der Mitarbeiter, die Integration in die Medizin, der Stellenschlüssel, das ist alles völlig unzureichend. Aber das sind keine Fehlleistungen der Psychiater sondern unserer Politiker, die die psychiatrischen Krankenhäuser chronisch unterversorgen. Eigentlich kann ein Arzt oder eine Ärztin auf einer Station nicht mehr als 10 Patienten und Patientinnen betreuen. Aber selbst hier in Berlin gibt es noch Kliniken, wo ein Arzt bis zu 40 Patienten behandeln soll.

Welche Erfahrungen haben Sie mit ambulanter Behandlung?

Ambulante Behandlung muß überhaupt erst angeboten werden. Nach vorsichtigen epidemiologischen Schätzungen sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung akut psychiatrisch behandlungsbedürftig.

Das ist immens viel!

Das sind ganz solide, eher konservative Schätzungen. Pro tausend Einwohnern sind das 200 Leute.

Befürchten Sie, daß solche Attentate zu einer generellen Diskriminierung von psychisch kranken Menschen führen?

Ganz sicher. Lax gesprochen, haben jetzt alle wieder Angst vor den Verrückten. Und auch die Patienten selbst sind betroffen, da sieht jetzt einer auf den anderen. Deshalb ist es ungeheuer wichtig, deutlich zu machen, daß psychisch Kranke weniger Menschen etwas antun als die Gesamtbevölkerung. Gegenüber psychischen Erkrankungen gibt es eben diesen Wust an Vorurteilen, die alle eine lange Tradition in unserer Kultur haben.

Wie kann so eine paranoide Psychose entstehen?

Es gibt eine Reihe von Ursachen. Es gibt eine Vulnerabilität, also manche Leute bekommen einen Herzinfarkt und andere nicht. Da gibt es Konstitutionsunterschiede. Die aber treten, und das ist das Wichtige, in Interaktion mit weiteren Faktoren. Hier werden zum Beispiel traumatische Hirnschäden diskutiert. Dann gibt es eine andere Sorte von Erkrankungen, und das könnte auch bei Dieter Kaufmann der Fall sein, die sind schlicht toxisch. Wenn sie zum Beispiel an LSD denken, da genügt eine Pille, um sich in einen psychotischen Zustand zu versetzen. Um es unwissenschaftlich auszudrücken: Damit verbeulen sich Leute das Gehirn.

Und welche Rolle spielen familiäre Konstellationen?

Die treten dazu in Wechselwirkung. Zum Beispiel gibt es das Expressed-Emotion-Concept. Bei einem körperlich behinderten Kind, kann es zu kompensierender Hilfe kommen. Wenn aber Kinder „Behinderungen“ haben, die sich zunächst in Verhaltensauffälligkeiten äußern, führt das nicht zu kompensatorischer Hilfe, sondern zu Querelen. Wer hier mit „normalpsychologischen“ Mitteln zu intervernieren versucht, macht es nur noch schlimmer. Wenn man einem depressiven Menschen sagt, er soll sich nicht so anstellen und lieber den schönen Herbst genießen, dann geht er raus und bringt sich um. Diese Art von Aufmunterung ist bei psychisch Kranken völlig fehl am Platze. Die Sekundärfolgen, zum Beispiel Verlust des Arbeitsplatzes, der sozialen Beziehungen, sind dann oft viel schwerer zu beheben als die psychische Störung selbst. Interview: Helga Lukoschat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen