: Verschärfte Armut im deutschen Wohlstand
Auch in den alten Bundesländern geht es Millionen miserabel/ Seit 1980 stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 60% auf 3,4 Millionen Personen/ neue Studie vorgelegt/ 600.000 Westlern droht Wohnungverlust/ Wer reich ist, lebt länger ■ Von Walter Jakobs
Düsseldorf (taz) — Die viel umjubelte Wohlstandssteigerung während des letzten Jahrzehnts in den alten elf Bundesländern ist an einer immens gestiegenen Zahl von Personen völlig vorbeigegangen. Immer mehr Menschen werden aufgrund von Arbeitslosigkeit oder langjähriger Krankheit gezwungen, Sozialhilfe zu beantragen.
Insgesamt stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 1980-1988 um 60 Prozent auf 3,4 Mio Personen. Durch Verknappung des Wohnraums und steigende Mieten droht einer wachsenden Zahl von Menschen die Obdachlosigkeit. Aktuell gefährdet sind etwa 600.000 Personen. Bis zum Jahr 2000 dürfte diese Zahl in den Ländern der ehemaligen BRD sogar auf eine Million Personen steigen. Diese Zahlen, die die zunehmende Spaltung der insgesamt reichen kapitalistischen Gesellschaft nachhaltig dokumentieren, gehen aus einer Studie führender Armutsforscher hervor, die am Dienstag in Düsseldorf vorgestellt wurde. Wie der Mitherausgeber der im Suhrkamp-Verlag erschienenen Studie, Prof. Walter Hanesch, sagte, hat die Armutsforschung unzweifelhaft ergeben, daß „die Angehörigen unterer Berufsgruppen aufgrund ungünstiger Arbeitsbedingungen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsteilen nicht nur gefährlicher und ungesünder, sondern auch kürzer leben“. Im Klartext: Wer reich ist, lebt länger.
Ganz besonders schlimm sind die Pflegebedürftigen vom Verarmungsprozeß betroffen. Von den 1,7 Millionen, die zu Hause betreut werden, sind 25 Prozent sozialhilfebedürftig. Bei den 370.000 in Heimen untergebrachten Pflegebedürftigen beträgt der Anteil sogar 70 Prozent. Insgesamt, so das Fazit der Studie, haben sich im Zeitraum 1978-1988 die sozialen Gegensätze in den alten 11 Ländern „verschärft“. Die Polarisierung schreitet auch innerhalb der Erwerbsbevölkerung ständig voran. Knapp 30 Prozent aller Beschäftigten arbeiten inzwischen als Leiharbeiter, Scheinselbständige oder in Teilzeitjobs, also in solchen Bereichen, in denen „ein voller arbeits- und sozialrechtlicher Schutz nicht gegeben ist“.
Während die einen verarmen, sahnen die anderen kräftig ab. Ursula Engelen-Kefer, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, wies am Dienstag daraufhin, daß im vergangenen Jahr in der EX-BRD „an Zinsen und Dividenden insgesamt fünfmal mehr gezahlt wurde, als den Sozialhilfeempfängern insgesamt zur Verfügung stand.“ 80 Prozent der Zins- Und Dividendeneinnahme gehen im übrigen an nur 30 Prozent der Haushalte. Nach den Schätzungen des DGB leben nahezu zehn Prozent der Bevölkerung in den elf alten Ländern an oder unter der Armutsschwelle. In den neuen fünf Bundesländern drohen die sozialen Probleme nach Auffassung der DGB-Vize-Chefin „noch schärfer hevorzutreten“. Mehr als jeder zehnte Arbeitslose und 674.000 Rentenempfänger in der ehemaligen DDR seinen bisher auf den Sozialzuschlag von 495 DM angewiesen. Die Höhe des Zuschlages errechnet sich aus der Differenz zwischen der tatsächlichen Rente und dem Mindeseinkommen von 495 DM.
Besonders die etwa 395.000 ärmsten Renter der neuen 5 Länder gehen trotz der angekündigten 15-Prozent- Rentenerhöhung nach Darstellung des DGB völlig leer aus, weil ihr Zuschlag um den Rentenanstieg reduziert wird, denn die 495-DM-Grenze bleibt bestehen.
Zu diesen Zahlen paßt eine Meldung, die Bundesjustizminister Engelhard am Dienstag verbreiten ließ: Demnach konnten 1,2 Mio Haushalte in der EX-DDR im vergangenen Jahr ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.
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