Indien: Regierung Singh in der Krise

■ Mindestens fünfzig Tote bei Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in Nordindien Auslöser war hinduistischer Sturm auf Moschee/ Auch Kämpfe in Jammu, Kaschmir und Bangladesh

Ayodhya (ap/dpa) — Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Hindus um den Bau eines Hindutempels in der nordindischen Stadt Ayodhya haben auch auf das Nachbarland Bangladesch übergegriffen. Über die Altstadt von Dhaka wurde gestern eine unbegrenzte Ausgangssperre verhängt, nachdem Moslems Hindutempel zerstört und Geschäfte von Hindus geplündert hatten. Dutzende von Feuerwehren versuchten Brände zu löschen, die von den aufgebrachten Moslems gelegt wurden. In der südlichen Hafenstadt Chittagong stürmten Tausende von Moslems aus Solidarität mit ihren indischen Glaubensbrüdern zwei Hindutempel. Über die Stadt wurde eine Ausgangssperre verhängt. In Bangladesh gibt es 85 Prozent Moslems. Das religiöse Kräfteverhältnis in Indien ist gerade umgekehrt. Zwölf Prozent der 850 Millionen Einwohner Indiens sind Moslems, 82 Prozent Hindus. Im „Epizentrum“ Ayodhya, wo sich Anhänger beider Glaubensrichtungen am Dienstag heftige Kämpfe lieferten, marschierten unterdessen zusätzliche Regierungs- und paramilitärische Truppen auf. Ein Sprecher radikaler Hinduorganisationen hatte dennoch gemeint, der Sturm Zehntausender auf die Moschee sei „gerade erst der Anfang gewesen“. Die Unruhen der vergangenen zwei Tage kosteten mindestens fünfzig Menschen das Leben und verletzten über hundert Personen. Die Soldaten sperrten in Ayodhya die Brücke über den Fluß Saryu und hinderten so rund 6.000 Hindus am Betreten der Stadt. Die Gruppe versammelte sich auf der anderen Seite des Flusses, sang religiöse Lieder und sprach Gebete.

Alles hatte damit begonnen, daß am Dienstag Hindus mit dem Bau eines Tempels auf einem Platz beginnen wollten, auf dem seit 460 Jahren eine Moschee steht. Soldaten hatten daraufhin das Gebiet abgeriegelt und waren mit Tränengas, Schlagstöcken und später auch Schußwaffen gegen Tausende von Gläubigen vorgegangen. Unterdessen hat eine Moslemdelegation Ayodhya besuchen dürfen und erneut erklärt, die Moslems sollten Ruhe bewahren. Die Beschädigungen der Moschee hielten sich in Grenzen.

Auf den Straßen mehrerer anderer Städte lieferten sich Hindus und Moslems auch gestern Nacht wieder blutige Kämpfe. In den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Himachal Pradesh, Gujarat, Orissa, Rajasthan und Uttar Pradesh wurden über mindestens 52 Städte, Distrikte und Polizeibezirke Ausgangssperren verhängt. Die Armee kontrolliert allein in Rajasthan 24 Städte. In Orissa wurde sie in Alarmbereitschaft versetzt. In der zentralindischen Stadt Indore wurde den Soldaten nach Plünderungen und Brandstiftungen Schießbefehl erteilt. Die rechtsgerichtete Bharatiya-Janata-Partei (BJP) rief einen Generalstreik im von Hindus besiedelten Teil Kaschmirs aus. Hier gab es bei Zusammenstößen mindestens dreißig Verletzte. Der „Fall Ayodhya“ hat die Minderheitenregierung unter Ministerpräsident Vishwanath Pratap Singh in eine schwere Krise gestürzt. Singh hat mehrmals betont, man werde eine Zerstörung der Moschee mit aller Macht verhindern. Seit Wochen wird das Thema im Land heftig diskutiert wie auch per Gewalt zu „lösen“ gesucht. Beobachter befürchten einen gnadenlosen Religionskrieg.

Am 7.November muß sich die Singh-Regierung einer Vertrauensabstimmung im Parlament stellen, die sie wahrscheinlich nicht überlebt. Schon letzte Woche stieg die BJP aus der Koalition aus, nachdem ihr Parteichef Lal Krishan Advani bei einem Marsch auf Ayodhya festgenommen worden war.

Singh bot gestern erneut der Parteiführung seinen Rücktritt an, nachdem schon Umweltministerin Maneka Ghandi und Sportminister Bakhta Charan aus Protest gegen die Behandlung der Hindus ihre Rücktrittsgesuche eingereicht hatte.