: Ist Heinar Kipphardt Naturlyriker?
Neue Nachrichten aus der Feuilletondebatte ■ Von Elke Schmitter
Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete aber sieht in jedem das Positive.“
So sagte Hegel, und so wollen wir es halten. In einem Fortsetzungs- Drama, gespielt von den führenden Köpfen der (ehemals westdeutschen) Feuilletons findet sich inmitten des Tadelns und Räsonnierens allerlei Amüsantes, und wenn es sich auch nicht um das Hegelsche Positive handelt, kann es doch positiv stimmen.
Rollenverteilung: Frank Schirrmacher, 'Frankfurter Allgemeine Zeitung': der junge Held, Eigenname: der „Nachgeborene“. Vom Widersacher WS auch „Siegfried, der Drachentöter“ genannt. Wolfram Schütte, 'Frankfurter Rundschau': der böse Alte. Hält dem Drachentöter den Spiegel vor. Ulrich Greiner, 'Die Zeit': der gerechte Richter. Gibt beiden recht, meint aber eigentlich etwas ganz anderes. Publikum: die geneigte Öffentlichkeit.
Im ersten Akt erhebt der junge Held die Stimme. Anläßlich einer Buchmessenbeilage will er sich nicht lumpen lassen und wartet auf mit einem selbstgeschriebenen Aufsatz, betitelt: „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewußtseins“. Es sei dahingestellt, ob man Mythen kündigen kann, zumal es sich im dargestellten Fall nicht um Untermieter, sondern um Hausbesetzer zu handeln scheint. Die These (Kündigung des Mythos): Die Gruppe 47 und überhaupt die moderne Nachkriegsliteratur war „gleichsam sozialpsychologisches Organ“, „Spiegel des kollektiven Bewußtseins“, „Produktionsstelle der westdeutschen Identität“. Der Vorgang ist höchst dialektisch. Denn zuerst weist der junge Held nach, daß es sich bei der selbstgewählten Rolle der Literatur, die Wirklichkeit kritisch, nörgelnd, in jedem Fall „verdächtig“ (so Walter Jens 1962) zu begleiten, um eine Legende handele. Zweitens hat die Literatur, also die Hausbesetzerszene des Bewußtseins, ihre Aufgabe schlecht, weil viel zu gut erledigt: „Ein Großteil der von der Gruppe 47 repräsentierten Literatur hat, ohne es vielleicht zu wollen, die Nachkriegsgesellschaft mit neuen Pässen und neuen Biographien versehen.“ Der Preis? „Der Preis war die Vergangenheit. Es scheint, daß ein Großteil der westdeutschen Literatur den Raum der Geschichte nicht geöffnet, sondern ihn, ungewollt, versperrt hat.“ Im Klartext: Ihr habt euch für progressiv gehalten, aber ihr wart es nicht.
Um die volle Komik der Situation zu erfassen, muß man berücksichtigen, daß dieser Vorwurf der Geschichtslosigkeit, dazuhin der gemütlichen Identität mit der Gesellschaft selbst vom Literaturchef der FAZ kommt — einem Organ mithin, das sich bisher jedenfalls nicht durch unnachgiebige Aufrechnung alter Schulden, rücksichtlose Entlarvung alter Nazis, ätzende Kritik an der Kontinuität gewisser Lebensläufe beispielsweise in der deutschen Wirtschaft einen Namen gemacht hat und dem die Nichtaufnahme flüchtender sowjetischer Juden eine dpa- Meldung wert war. Auch die argumentative Hinführung ist von hohen Unterhaltungswert. Sie entsteht nämlich aus der Definition der progressiven Literatur „als Produktionsstelle der westdeutschen Identität“, als „Sprecher und Repräsentant der Nation“, auf die „die überwältigende Mehrheit der nachwachsenden Generationen nur gewartet hat“. Ich stelle mir die überwältigende Mehrheit vor, die sich an den Wühltischen der neuen Kaufhäuser nicht um Perlonstrümpfe, sondern um die Textbücher Heißenbüttels rangelt. Ich stelle mir mir einen Bundespräsidenten vor, der sich nicht bei Damen, Herren und Negern, sondern bei rechts und links verspricht. Ich stelle mir schließlich Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß vor, wie sie, „Die Ermittlung“ mit verteilten Rollen lesend, durch die Bonner Hallen wandeln. (Die These des jungen Helden verhält sich übrigens aufs Schönste analog zu der pathologischen Vorstellung Syberbergs, die „Linken, Juden und Emigranten“ hätten die Macht im Nachkriegsstaate gehabt, gegen die der Drachtentöter sich aufs Heftigste verwahrte.)
Interessant an diesem Fall ist zweierlei: die falsche Gleichsetzung von Literatur mit ihrer Rezeption und ein verkitschter und narzißtischer Begriff von Öffentlichkeit. Denn beides wird sich wiederholen.
Zweiter Akt. Auftritt: der böse Alte. Auch Wolfram Schütte läßt sich nicht lumpen, scheitert aber an dem bekannten Problem, daß eine Kritik nur schwer über ihren Gegenstand hinauswächst. Er weist dem jungen Helden nach: „In den Rang der Staatsdichter wider Willen sind sie (die Mitglieder der Gruppe 47/ es) von ihm nur erhoben worden, um sie mit dem Ende des Staates abservieren zu können.“ Aber ein Übermaß an Eifer hat zu Stilblüten geführt, die ihrerseits nicht ohne Reiz sind: Schirrmacher, so Schütte, „läßt seinen Versuch einer Umschuldung und Verschrottung der gesamtdeutschen Nachkriegsliteratur um so peinlicher als Poker-Partie eines Vabanque- Spielers erscheinen, der mit gezinkten Karten zu bluffen versucht.“
Letzteres tut der gerechte Richter nicht, er ordnet die Frage neu: „Der eigentlich interessante und den Fall Christa Wolf erhellende Streit betrifft den Zusammenhang von Ästhetik und Moral. Auf Schirrmachers Kritik, wichtige bundesdeutsche Autoren hätten die Ästhetik durch Gesinnung ersetzt, antwortet Schütte wie folgt: Die Literatur der Bundesrepublik habe die Rolle ‘eines Spür- und Minenhundes wider eine auf Restauration und kollektive Vertuschung bedachte Staats- und Herrschaftsanwaltschaft‘ übernehmen müssen, und er spricht deshalb von einem 'intellektuell-moralischen Dissens' zwischen den Schriftstellern der Bundesrepublik.“ Ulrich Greiner gibt zunächst beiden recht: Die Gruppe 47 gehöre „keineswegs, wie die Legende es will, zu einer mißachteten Minderheit. In diesem Punkt hat Schirrmacher recht“. Andererseits „darf man nicht (wie Schirrmacher) die Tatsache unterschätzen, daß die Autoren in Ost und West eine lebenswichtige Ersatzfunktion wahrgenommen haben: Öffentlichkeit herzustellen.“ (?) Ab hier geht es durcheinander.
„Die Gesinnungsästhetik“, meint Greiner nun, „ist das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literaturen von BRD und DDR.“ (Also doch: auf den großen Haufen damit!) „Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in beiden deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus et cetera.“ Was will uns dieses sagen? Hätte Peter Weiss womöglich statt der „Ästhetik des Widerstands“ eine wirklich schöne Liebesgeschichte schreiben können? Hat sich Heinrich Böll nur durch das dreckige, katholische Köln gequält, weil die SPD ihm dafür eine Rente zahlte? Hat an ihm und Grass, Fried, Walser und Kipphardt womöglich die Naturlyrik unschätzbare Talente verloren? Ist Enzensberger im Grunde Anakreontiker? Anders herum: Sind Brecht und Johnson eigentlich gar keine Schriftsteller? Hätte Anna Seghers Köchin werden sollen, Christa Wolf Parteisekretärin? Das Mißverständnis, dem er selbst verfällt, beschreibt er gut. Es „wurzelt in der Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum. Sie ist eine Variante des deutschen Sonderweges. Sie läßt der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern sie verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“ Da ist sie wieder, die Verwechslung von Literatur mit ihrer Rezeption. Es ist eine Sache, wenn man sich wie Koeppen als „engagiert gegen die Macht, gegen die Gewalt, gegen die Zwänge der Mehrheit“ versteht, sich zählt „zu den Verfolgten, zu den Verjagten“, mit „geheimnisvollem Auftrag“ (Büchnerpreisrede 1962). Aber entscheidend ist der Text, den er schreibt. Wenn Christa Wolf mit gutem Willen ein schlechtes Buch schreibt — wie zum Beispiel im „Störfall“ — dann ist nur letzteres entscheidend.
Christa Wolf wurde von ‘Zeit‘ und ‘FAZ‘ nicht wegen des von ihr mitverfaßten Aufrufes „Für unser Land“ kritisiert, also politisch wegen einer politischen Handlung (wie Arno Widmann das in der ‘taz‘ getan hat), sondern sie wurde für ein literarisches Werk politisch und moralisch kritisiert. Nun ist speziell der Fall Christa Wolf komplizierter — und führt zurück auf die Verwechslung von Literatur mit ihrer Rezeption. Die Eigenschaft von Literatur in totalitären Systemen, auch zwischen den Zeilen gelesen zu werden, kann dazu führen, daß ein augenscheinlich harmloser Text wie „Kein Ort. Nirgends“ subversive Lesergedanken weckt. Die literarische Darstellung eines Individuums als fragiles, sich durch Reflexion immer neu bestimmendes Subjekt, lavierend zwischen Widerständen — und so sind alle literarischen Subjekte Christa Wolfs — hat in einem System, das nicht nur seinerseits geschlossen ist, sondern auch seine Individuen als (nicht nur ideologisch) kohärent definieren muß, eine andere Bedeutung als in einem Staat, der auf ein Höchstmaß an Flexibilität seiner Bürger angewiesen ist. Christa Wolf hat die gesinnungsästhetische Verwechslung mit ihrer allzu pünktlichen Veröffentlichung von „Was bleibt“ selbst provoziert, und die Kritik hat ihr die Pünktlichkeit statt der Verwechslung zum Vorwurf gemacht.
Es bleibt mir rätselhaft, warum ausgerechnet der Feuilletonchef der 'Zeit‘ den BRD-Autoren zugesteht, die „lebenswichtige Ersatzfunktion wahrgenommen zu haben: Öffentlichkeit herzustellen“. Auch ist mir entgangen, „daß die Literaturkritik sich immer wieder bemüht hat, einen Journalisten wie Simmel zum Gegenstand ästhetischer Darlegungen zu machen“. Am überraschendsten allerdings erscheint mir die Beobachtung: „In Deutschland wechselt man das Hemd, nicht die Gesinnung.“ Es mag mit meiner Erfahrung mit Öffentlichkeit in ebensolchen Verkehrsmitteln zusammenhängen, daß meine Nase anderes wahrgenommen hat. Und was die Gesinnung betrifft: wer hat denn in Deutschland nach 45 noch einen offenen Nazi getroffen, oder wenigstens einen ehemaligen? Und wo bleiben die selbstbewußten Bekundkungen alter Stasi- Funktionäre in den Zeitungen? Es wäre doppelt schön, wenn Ulrich Greiners Satz wahr wäre.
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