„Notwehrsituation der Polizei völliger Unsinn“

Für Michael Heinisch, Jugenddiakon und Augenzeuge der Leipziger Krawalle am Fußballstadion, stellt sich der Tathergang völlig anders dar, als es die Polizei behauptet/ Polizei schoß auch fliehenden Hooligans noch hinterher  ■ Von W. Gast & R. Sorge

Berlin (taz) — Die Durchsage der Polizei über Megaphon war kurz und der Inhalt nur schwer zu verstehen: Berliner Fußballfans haben heute zum Stadion keinen Zutritt. Eine Begründung erfuhren die etwa 150 Berliner Fußballfans, die, vom Vorortbahnhof Leipzig Leutzsch kommend, in das Stadion wollten, nicht.

Wenige Sekunden später wurde geschossen. „Zuerst dachte ich, die schießen mit Gummigeschossen“, erinnert sich Michael Heinisch (26), Jugenddiakon bei der Berliner Erlöserkirche und seit Jahren engagierter Sozialarbeiter unter den Fußballfans. Seine erste Reaktion: Er fand das Vorgehen der etwa 50 Leipziger Polizisten „unangemessen hart“. Geknallt habe es wie im Wilden Westen, „kurz und massiv“. „Ich habe mich umgedreht und meinen Körper geschützt, und als ich wieder hochgeguckt habe, lagen auf einmal überall Leute rum, die blutig waren.“ Die offizielle Bilanz nach dem Schußwaffeneinsatz: ein Toter und sechs schwerverletzte Fußballfans.

Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärte die Leipziger Polizei, der Gebrauch der Schußwaffen sei in Notwehr erfolgt. Fußballrowdys hätten die Beamten eingekesselt und angegriffen, für die Polizisten sei es um „Sein oder Nichtsein“ gegangen, wie der Leiter der Bezirkspolizei, Oberrat Bernd Gasch, der Presse erklärte. Verschiedene Augenzeugen berichten dagegen unabhängig voneinander, daß die von der Polizei reklamierte „Notwehrsituation“ offenbar auf eine eklatante Panne im polizeilichen Einsatz zurückgeht.

Auf dem Weg vom Bahnhof Leutzsch zum Stadion wurden den Berliner Fans noch Eintrittskarten verkauft. Vor dem Stadion stießen sie dann allerdings auf eine Polizeikette, die sie am Einlaß hinderte. Daß es zu diesem Zeitpunkt im Stadion bereits Auseinandersetzugen der Anhänger von Eintracht Sachsen mit der Polzei gab, ahnten die 150 Angereisten nicht. Michael Heinisch wollte, wie er sagt, mit den Polizisten über einen Einlaß verhandeln und von Anfang an „deeskalierend“ eingreifen.

Einzelne Fans hatten bis dahin auf dem Weg zum Stadion Leuchtraketen in die Luft gefeuert, Randale oder andere Ausschreitungen habe es aber keine gegeben, beteuert Heinisch. Zu Verhandlungen kam es nicht. Die Polizei setzte statt dessen Tränengas ein und trieb die Hooligans damit zum Bahnhof zurück. Durch eine enge Straße versuchten die Berliner FC-Fans dann, einen anderen Stadioneingang zu erreichen. Aber auch dort stießen sie auf Polizisten. Die Beamten setzten sofort Knüppel ein und jagten die Leute auf das Bahnhofsgelände zurück. Die Stimmung unter den Hooligans war mittlerweile gereizt, ein Teil wollte in die Leipziger Innenstadt zurück, ein Teil weiter versuchen, Einlaß ins Stadion zu bekommen. In dieser Situation rollte den Augenzeugen zufolge ein einzelner Mannschaftswagen der Polzei vor, der von den Fußballfans johlend empfangen wurde. „Den mußten wir stürmen“, erklärt heute ein 23jähriger Berliner Hooligan, „sie versuchten, rückwärts abzuhauen, das ging zu langsam, da sind sie abgehauen.“ Andere Zuschauer berichten dagegen, daß der Mannschaftswagen noch hätte wegfahren können. Die Idee, den Wagen zu besteigen und zum Stadion durchzubrechen, kam anschließend auf. Statt dessen wurde das Polizeiauto aber von einzelnen umgekippt und angezündet. Auch ein Trabant wurde von ihnen in Brand gesetzt. Daß es sich dabei um ein Polizeifahrzeug handelte, wie die Einsatzleitung später erklärte, kann Michael Heinisch nicht bestätigen. Genausowenig wie die Angaben der Polizei, daß es sich zu diesem Zeitpunkt um einen aggressiven Pulk von 400 bis 500 Fußballfans gehandelt hat. „Ich weiß nicht, wo sie die Zahlen hernehmen.“

Auf dem Bahngleis in Richtung Stadion stehend, konnte Michael Heinisch beobachten, daß sich vor dem Bahnhof eine neue Einsatzkette der Polizei formierte. „Viele, aber längst nicht alle von uns gingen dahin.“ Weiter konnte er sehen, daß vom Stadion her Leute auf den Bahnhof und damit auf die Polizisten zukamen. Einzelne hatten sich zuvor mit Holzlatten bewaffnet, die sie von einem Zaun vor dem Bahnhof abgerissen hatten. „Als wir dann so locker hingingen“, sagt Heinisch, „hat es plötzlich geknallt“. Von der schwerverständlichen Megaphon-Durchsage abgesehen hatte es keine Warnung gegeben. Nach dem Schußwaffeneinsatz lagen blutende Menschen an Boden, der 18jährige Mike Polley wurde tödlich ins Herz getroffen. Auch die Wiederbelebungsversuche des ausgebildeten Krankenpflegers Heinisch kamen zu spät.

In der Darstellung der Polizei hieß es später, die Beamten seien von Leuten vor dem Stadion eingekreist und angegriffen worden. Für den Jugenddiakon ist das „entweder falsch beobachtet oder gelogen“. Nach seinen eigenen Beobachtungen und nach Gesprächen mit anderen Fußballfans rekonstruiert er den unübersichtlichen Verlauf heute dahingehend, daß die Personen, die er aus dem Stadion kommen sah, nach Auseinandersetzungen im Stadion von der Polizei nach außen getrieben worden waren. Das hätten ihm auch Berliner Fans, die im Stadion waren, bestätigt. Einer von ihnen wurde vor dem Stadion durch einen Schuß an der Hand verletzt. Die Polizei hat damit den eigenen Kollegen die Hooligans vom Berliner Fußball-Club in den Rücken getrieben.

Bestätigt ist auch, daß die Polizisten auf flüchtende Hooligans geschossen haben. Einer der Hooligans wurde von einer Polizeikugel am Oberschenkel getroffen, als er sich auf dem Bahnhof in einen S-Bahn- Zug flüchten wollte. Die meisten der Verletzten sind von hinten getroffen worden, berichtet Heinisch weiter.

Der 23jährige Berliner Fan LutzA. Erklärt, auch er sei von der Schießerei überrascht worden: „Ich habe wenig mitbekommen. Andere behaupten, sie hätten die Kugeln pfeifen gehört. Ich war relativ weit hinten, daher hörte ich auch keine Warnschüsse oder so. Aber von einer Notwehrsituation für die Polizei zu reden, ist völliger Unsinn. Wir waren auf dem Bahnhofsgelände und die Bullen draußen auf der Straße. Zwischen dem Getöteten und den Polizisten waren mindestens vierzig Meter. Die hielten wahllos in die Menge.“ Auch die offiziellen Angaben der Polizei über die Anzahl der Verletzten scheinen stark untertrieben. Allein im Leipziger Diakonissen-Krankenhaus sollen nach Angaben der Ärzte mindestens 15 Personen aufgenommen worden sein.

In der Leipziger Innenstadt kam es im Anschluß zu massiven Ausschreitungen. „Zuerst waren alle total erschüttert“, berichtete ein weiterer Hooligan, „da haben einige sogar dann geheult.“ Ein Teil der Fans verharrte betroffen am Bahnhof, während ein anderer „Polizistenmörder“ rufend durch die Innenstadt zog. Es war eine „Randale, wie ich sie noch nie gesehen habe“, sagt Michael Heinisch. Polizisten waren nach Berichten mehrerer Augenzeugen weit und breit nicht zu sehen.