piwik no script img

Moldavien: „Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben“

■ Wladimir Solonar ist Abgeordneter der ukrainischen Minderheit im moldavischen Parlament, Alexej Heistwer hat die moldavische Volksfront mitgegründet und ist Mitglied der antistalinistischen Gruppe „Memorial“, Nikolai Babilunga, Historiker, arbeitet ebenfalls bei Memorial mit.

taz: In der Moldau-Republik, so scheint es, schlagen die Völker wieder aufeinander ein. Dabei haben Sie doch erst vor kurzem den Stalinismus abgeschüttelt und wollten die Demokratisierung. Wie kommt das denn?

Wladimir Solonar: Im Mai und im Juni dieses Jahres ist die moldauische Volksfront zur führenden politischen Kraft in unserer Republik aufgestiegen und hat die Macht übernommen. Das brachte eine Umwälzung der politischen Landschaft mit sich. Indem die Volksfront die Macht übernommen hat, sind die (rumänischen) Moldavier wieder zur Mehrheit im eigenen Land geworden. Sie haben eine völlig neue offizielle Ideologie entwickelt. Meiner Meinung nach wurde nur der alte Staatsterrorismus durch einen neuen ersetzt. Denn es ist ein radikal nationalistisches System geworden. Premierminister Mircea hat z.B. im 'Drug‘ geäußert, daß es eine Ehre für Nicht-Moldavier sei, in der Republik leben zu können. Stellen Sie sich vor, immerhin sind 35 Prozent der Bevölkerung Minoritäten wie Gagausen, Juden, Russen, Ukrainer und andere. Es ist ein Regime, das mit Gewalt und Einschüchterung die Macht ausübt. Als z.B. der Oberste Sowjet der Republik gebildet wurde, wurden Abgeordnete verprügelt, wenn sie nicht den vorherrschenden Meinungen folgten. Und das passiert immer noch. Ich beschuldige die Führung der Republik, Verbindungen mit Hooligans und Kriminellen zu unterhalten, die gegen politische Opponenten eingesetzt werden. Auch die Zivilbevölkerung wird terrorisiert. Am 14. Mai wurde ein russischer Junge totgeschlagen, nur weil er Russisch auf der Straße sprach. Die Mörder waren festgenommen aber gleich wieder freigelassen worden. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Büros von russischen oppositionellen Zeitungen wurden zerstört und eine von ihnen zugemacht. Wieder war niemand schuld.

Wie konnte es denn überhaupt zu einer solchen Situation kommen?

Alexej Heistwer: Nach dem 19. Parteikongreß Anfang 1988 haben wir verstanden, daß der Prozeß der Perestroika so nicht mehr weiter geht und wir selbst gezwungen sind, zu handeln. In den ersten Monaten waren noch alle demokratischen Gruppen zusammen. Doch schon einige Monate später dominierten die Differenzen zwischen den Nationalitäten. Die rumänischen Nationalisten in der Volksfront machten Front gegen die anderen Nationalitäten. Ich vermute, daß dies auch im Zusammenhang der Politik der Nomenklatura stand, die ihre Privilegien verteidigen wollte.

Aber die Moldauische Volksfront hat doch die demokratischen Wahlen gewonnen?!

Solonar: So einfach ist das nicht. Die Rumänen in der Moldau-Republik machen 65 Prozent der Bevölkerung aus, aber die Volksfront hat nur ein Drittel aller Stimmen auf sich ziehen können. Ein anderer beträchtlicher Anteil fiel auf die unter neuen Namen auftretenen alten Apparatschicks. Ungefähr ein Drittel der Stimmen konnten die unterschiedlichen Gruppen aus den Minderheiten gewinnen, so die Gagausen und die Gruppe „Einheit“, aber auch die Vertreter des überwiegend russischen „Vereinigten Rats der Arbeiterkollektive“ gehört zu dieser Gruppe. Fortan wurden die Nationalisten der Volksfront von den Apparatschiks unterstützt.

Mehrheit ist Mehrheit. Aber konnten Sie ihre Vorstellungen vorbringen und in die Gesetzgebung einbringen?

Solonar: Ich bin ein Abgeordneter und es ist fast unmöglich für mich, Probleme im Parlament zu diskutieren. Die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion stimmen nur ab, diskutieren aber nicht. Die offizielle Sprache wurde geändert, statt Russisch wird nun Rumänisch als offizielle Sprache anerkannt. Das ist lediglich eine Umkehrung der vorausgegangenen Verhältnisse. Aus den Betrieben und Verwaltungen werden immer mehr entlassen, die Russisch als Muttersprache haben. Vor zwei Wochen wurden Notstandsbestimmungen für das Gebiet der Gagausen erlassen. Dieses Gesetz war sehr ausführlich auf neun Seiten ausgeführt. Aber im Parlament wurde nur 15 oder 20 Minuten darüber gesprochen. Einige Abgeordnete der Mehrheitsfraktion kamen anschließend zu mir und sagten, sie hätten Angst gehabt, dagegen zu stimmen. Ich habe den Eindruck, sie wurden unter Druck gesetzt. Ich versuchte, gegen diese Prozedur aufzutreten, wurde aber mit der Bemerkung „Halt' die Klappe“ zurechtgewiesen.

Nicolai Babalunga: Die Regierung der Moldau-Republik hat die demokratischen Wahlen im Gebiet der Gagausen als eine Bedrohung der Integrität des Staates bezeichnet. Die Gagausen haben die Wahlen durchführen wollen, weil sie keinen anderen Weg sahen, um ihre nationalen Rechte geltend zu machen. Ich unterstütze zwar keinen unabhängigen Gagausen-Staat, der wäre sowieso nicht lebensfähig, aber er ist der einzige Weg, um den nationalistischen Druck in Grenzen zu halten. Wir sind auf dem Weg zu einem Bürgerkrieg. Das stalinistische System wurde in eine nationalistische Herrschaft überführt. Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben. Die Bevölkerung fängt an, ihren Feind nicht in dem alten System zu sehen, sondern in anderen Nationalitäten. Es wird zu einem Punkt kommen, daß viele Leute sagen, „genug jetzt, wir wollen Gesetz und Ordnung“. Es wird dann eine Diktatur geben, die von der Gesellschaft als positiv angesehen wird. Es gibt zwei mögliche Lösungen, eine neostalinsitische Diktatur in der ganzen Sowjetunion, oder ein Auseinanderfallen der Sowjetunion in von Diktaturen beherrschte Teile.

Interview: Paul Hockenos/

Erich Rathfelder

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen