: Visitenkarte vom Makler
■ Häuser besetzen ist eine Pflicht GASTKOMMENTAR
Als ich dieser Tage meinen taz-Artikel über die Demonstrationen vom 7. und 8. Oktober '89 las, konnte ich nur noch schmunzeln über diese schüchterne einstige Volkspolizei.
Sicher war auch ich damals über die massive Staatsgewalt derart empört, daß ich manche Schilderung übertrieb, zumal man die DDR-Gewaltigen noch mit moralischen Vorwürfen beeindrucken konnte. Was ich in den letzten Tagen aber bei den Häuserräumungen gesehen habe, übertraf die damaligen Polizeimanieren bei weitem an Brutalität — und damals ging es um mehr; es ging tatsächlich um nicht weniger als einen Regierungssturz. Vor drei Wochen erhielt ich von Klaus Staeck eine Liste zur Unterschriftensammlung für Oskar Lafontaine, unterschrieb und las meinen Namen später in der 'Faz‘. Nun aber, nach dem Gewaltakt dieses SPD-Senats, kann ich diese Unterschrift nicht mehr aufrechterhalten und ZIEHE SIE HIERMIT ÖFFENTLICH ZURÜCK.
Ich lebe lange genug in Berlin, in so einer finsteren Bude im Prenzlauer Berg, die ich vor Jahren besetzt habe, weil das für einen, der keiner geregelten Arbeit nachging, die übliche Weise war, zu einer Wohnung zu kommen. Noch immer stehen, wie man hört, in Berlin mehr als 25.000 Wohnungen leer. Es ist unter diesen Umständen nicht nur ein Recht, sondern geradzu eine Pflicht des gesunden Menschenverstandes, diese Wohnungen zu nutzen.
Ich will hier nicht meine Privatprobleme schildern, aber gerade die frühere KWV und jetzige Wohnungsbaugesellschaft, die das alles verursacht hat, die es nicht einmal für nötig hielt, über ein dutzend Schreiben unseres neugegründeten Verlages zur Kenntnis zu nehmen, in denen wir 160 leerstehende Ladenräume allein im Prenzlauer Berg nachwiesen, um uns vergeblich um einen davon zu bewerben, bis wir schließlich eine Wohnung besetzten und für über 200.000 DM ausbauten, was wir der Wohnungsbaugesellschaft ebenfalls in unzähligen Schreiben mitteilten, bis wir nach einem dreiviertel Jahr die Auskunft erhielten, diese Räume seien bewohnt. Diese Wohnungsbaugesellschaft, die nicht nur von jenen Leerständen nichts weiß, die seit einem halben Jahr schlichtweg behauptet: Leerstände gäbe es nicht mehr, und die nichts, aber auch gar nichts für die Häuser tut, aber auch nicht bereit ist, sie zu verkaufen, deren Mitarbeiter mir auf ein Kaufersuchen unseres Verlages hin mit der Bemerkung: »Angebote haben wir genug« einen Stapel Visitenkarten Westberliner Makler zeigte — an der Gemeinnützigkeit dieser Firma ist mehr als nur zu zweifeln. Ganze 200 Häuser werden jetzt in Ost-Berlin rekonstruiert, die Zahl derer, die verfallen, ist um ein Vielfaches höher, und es ist wohl fraglich, ob an den geräumten Häusern in nächster Zeit auch gebaut wird. Man müsse gegen Gewalttäter vorgehen, meint der SPD-Senat und sämtliche Kommentatoren wiederholen die Floskel, ohne daß jemals gesagt würde, worin denn die Gewalt bestand, bevor die Polizei dagegen vorging. Der Eindruck, daß die SPD hier auf den Knochen der Leute Wahlkampf betreibt, indem sie den potentiellen CDU-Wählern beweisen will, daß sie genauso hart durchgreifen kann, drängt sich förmlich auf. Und wenn sich denn, wie es heißt, Kriminelle unter die Besetzer mischen sollten, könnte man diese auch mit normalen polizeilichen Mitteln belangen. Ich jedenfalls bin schon des öfteren von Faschos und Hooligans, noch nie aber von jenen Besetzern behelligt worden. Rainer Schedlinski, Schriftsteller, Prenzlauer Berg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen