: Tägliche Tode
■ Nautilus' Literarischer Taschenkalender
Wer sein Leben nicht mit öder Arbeit und mieser kleiner Karriere vertrödeln will, träumt in jungen Jahren davon, Gangster oder Künstler zu werden. Beide Tagträume sind kitschig und verklebt von verbrauchten Klischees, gleichzeitig halten sie, wie alle Klischees, etwas Wahres fest — die Sehnsucht nach dem Leben jenseits von Rentenversicherung, Langeweile und Deutscher Industrie- Norm. So gehörten die Fantomas- Romane zu den Lieblingsdrogen der Pariser Surrealisten, und heute schreibt Rainald Goetz einen Roman über seine Stammheim-Phantasien; sozialdemokratische Langweiler entdecken den Krimi als das letzte realistische Genre, während der anarchistische Romantiker von Bonnie und Clyde träumt.
Auch der Literarische Taschenkalender der Edition Nautilus, der die Tage und Wochen des kommenden Jahres mit Leichenbergen, abgebrühten Killern und stilvoll zerfleischten Bürgern belebt, interessiert sich für den romantisierenden Blick auf den kriminellen Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Käfig. Das Motto gibt der poetische Gangster Jacques Mesrine vor, der als Frankreichs „Staatsfeind Nummer eins“ berühmt wurde: „Ich finde es nicht idiotischer, durch eine Kugel im Kopf zu sterben als am Lenkrad eines R16 oder in der Fabrik bei einer Arbeit, die einem den Mindestlohn bringt. Ich persönlich lebe vom Verbrechen.“ Daß Mesrine 1979 auf idiotische Weise umgebracht wurde (Spezialeinheiten der Polizei erschossen ihn in seinem Wagen), verrät der Anhang des Kalenders — so wird die kriminelle Romantik in einer trockenen Notiz von der bewaffneten Wirklichkeit eingeholt.
Neben Klassikern des Genres und jungen Autoren sind hier einige unerwartete Texte zu entdecken: René Magritte betrachtet den Privatdetektiv Nat Pinkerton (sollte der Name ein heimlicher Gruß an Mr. Hammett sein?), und der „geniale Nonkonformist“ Adrien Turel besichtigt den Tatort eines unheimlich undurchsichtigen Mordes... Das Jahr endet mit einem entspannt erzählten Mord: „Mit fünfundzwanzig war ich verheiratet. Ich hatte ein Haus, einen Garten, einen Mann natürlich und sieben Kilo zugenommen. Ich langweilte mich zu Tode. Das heißt, tot war am Ende jemand anderer.“ Peter Laudenbach
Nautilus' Literarischer Taschenkalender 1991: Krimi. Edition Nautilus, 220 S., 12,80 DM
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