piwik no script img

Leben in der Pappstadt von London

Die Obdachlosen sind die Opfer von elf Jahren Thatcherismus/ Papphütten schützen sie im vornehmen Theaterviertel vor Wind und Regen/ Die Hoffnungen auf Verbesserung der Lage unter einer neuen Tory-Führung sind gering  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Zwischen Trafalgar Square und dem Zeitungsviertel der Fleet Street liegt The Strand, die vornehme Theaterstraße im Londoner Westend. Zwischen den hellerleuchteten Theaterhäusern und den teuren Restaurants liegen weihnachtlich dekorierte Boutiquen und die üblichen Fast- Food-Läden. Am Samstag abend kurz nach Ladenschluß herrscht Rush Hour im Strand: Die Weihnachtseinkäufer mit ihren Plastiktüten warten auf den Bus, während die ersten Pärchen in Abendgarderobe eintreffen, um vor dem Theaterbesuch in einem der teuren Restaurants einen Happen zu sich zu nehmen. Kaum jemand beachtet die Bettler, die die Warteschlangen an den Bushaltestellen abklappern und versuchen, die Gäste vor den Restaurants abzupassen. Nirgendwo werden die Folgen von elf Jahren Thatcherismus deutlicher als im Strand. Einige der Bettler haben sofort nach Ladenschluß ihr Nachtlager in den Eingängen der Geschäfte aufgeschlagen. Nicht alle Läden eignen sich jedoch dafür: „Wenn die Eingangstür etwas nach hinten versetzt ist, kann man sich in die Nische vor der Tür legen“, sagt David, ein etwa 50jähriger Obdachloser aus Nordengland. „Da ist man wenigstens vor Wind und Regen geschützt.“

David ist 1986 nach London gekommen. Die Zahl der Arbeitslosen lag damals bei 3,2 Millionen — fast dreimal so hoch wie 1979, als Margaret Thatcher ihr Amt als Premierministerin antrat. Viele Arbeitslose strömten auf der Suche nach Arbeit in die Großstädte. Da die britische Regierung jedoch gleichzeitig den öffentlichen Wohnungsbau drastisch reduzierte, herrscht heute akuter Mangel an billigem Wohnraum. Noch 1978 wurden 107.000 neue Wohnungen aus öffentlichen Mitteln gebaut. Zehn Jahre später waren es nur noch 29.000. „Bei den Mietpreisen in London hast du keine Chance“, sagt David. Er hat sich inzwischen im Eingang des Büroblocks „Centric House“ aus Pappkartons eine Art Hundehütte gebaut. Thatchers Rücktritt und der Nachfolgekampf, der am Dienstag wohl zwischen Michael Heseltine und Finanzminister John Major entschieden werden wird, läßt ihn kalt. „Welchen Unterschied soll das schon machen. Die sind doch alle gleich. Die meisten von uns Obdachlosen werden gar nicht merken, daß sie weg ist.“

Ein paar Häuser weiter liegt die Leamington Spa-Bausparkasse. Walter, ein 58jähriger arbeitsloser Bergarbeiter, hat sich in eine Decke eingerollt und sitzt in dem engen Eingang auf zwei leeren Bierkästen. „Thatcher hat das Land geteilt und die Reichen noch reicher gemacht“, sagt er. „Sie hat so getan, als ob alle Obdachlosen Alkoholiker und Drogensüchtige sind. Ich hoffe, daß ihr Nachfolger mehr für uns tun wird. Schließlich sind wir den Politikern peinlich.“ Auch den Theaterbesitzern und den Geschäftsinhabern sind die Obdachlosen ein Dorn im Auge. Im September hatten sich einige von ihnen zusammengetan und wollten ein Reinigungsunternehmen damit beauftragen, die Gehwege und Hauseingänge ständig zu bewässern. Der öffentliche Protest hat diesen Plan jedoch vorerst zum Scheitern gebracht.

Doch nicht alle Obdachlosen verfluchen Thatcher und freuen sich über ihren Sturz. Liam hat im Eingang des Schreibwarenladens Ryman Pappe ausgebreitet, seinen alten Kamelhaarmantel über den Kopf gezogen und vor sich einen Regenschirm aufgespannt, um sich vor den Blicken der Passanten zu schützen. Die Angestellte, die den Laden abschließt, ignoriert ihn so weit wie möglich, während sie über ihn hinwegklettert. Liam ist Anfang vierzig. Vor zwei Jahren kam er aus Irland auf Arbeitssuche nach London. Jeden Morgen steht er wie so viele irische Emigranten an der Kilburn High Road und hofft, von einem Minibus der Bauunternehmen aufgelesen und zu einer Baustelle gefahren zu werden. Für einen festen Job und eine Wohnung reicht es jedoch nicht. „Das macht kein Unternehmer. Da würden ja Sozialabgaben fällig.“

Liam zeigt auf das schräg gegenüberliegende Restaurant Simpson's. „Da kostet die Spargelvorspeise dreißig Mark. Trotzdem ist der Laden jeden Abend voll. Für diese Leute hat der Thatcherismus funktioniert.“ Doch er beklagt sich nicht: „Ich habe bisher Pech gehabt, aber dafür kann ich Thatcher nicht verantwortlich machen. Für die Mehrheit der Bevölkerung war ihre Politik richtig.“

Die Behörden haben im vergangenen Jahr 300.000 Menschen als obdachlos anerkannt. Die Londoner Hilfsorganisation SHAC schätzt jedoch, daß mindestens genauso vielen die Anerkennung verweigert wurde. Laut einer Untersuchung der Heilsarmee ist mehr als die Hälfte der Leute, die ständig auf der Straße übernachten müssen, über 40 Jahre alt. „Die Thatcher-Regierung hatte sich darauf konzentriert, die Jugendlichen von der Straße zu bekommen“, sagt David. „Jugendliche Obdachlose werfen ein noch schlechteres Licht auf den Thatcherismus als wir Alten.“ Wohnungsminister Michael Spicer hat im Sommer Pläne bekanntgegeben, wonach die Jugendlichen in alten Krankenhäusern und Gemeindehallen untergebracht werden sollen. Der stellvertretende Direktor der Wohlfahrtsorganisation „Shelter“, Simon Keyes, sagt: „Damit wird das Problem lediglich unter den Teppich gekehrt. Wir wollen jetzt adäquate Wohnungen.“

Auf dem Strand übernachten keine Jugendlichen. „Die sind alle in der Bank“, sagt David. Neben dem Adelphi-Theater liegt ein siebenstöckiges Bankgebäude mit neo-georgianischer Fassade. Die Bank steht leer. Der Boteneingang führt zur Rückseite des Gebäudes, an der morsche Feuerleitern angebracht sind. Bis zu 150 obdachlose Jugendliche schlafen jede Nacht in der Bank. „Die Alten kommen die Leitern nicht hoch“, sagt Richard, ein 16jähriger, der von zu Hause abgehauen ist. Er lebt vom Betteln. „Thatcher wollte uns fertigmachen. Ich bin froh, daß sie weg ist, obwohl ich nicht glaube, daß ihr Nachfolger dieses verdammte Gesetz zurücknehmen wird.“ Die Tory-Regierung hatte ein Gesetz eingeführt, wonach Jugendlichen nur noch dann Sozialhilfe gewährt wird, wenn sie nachweisen können, daß sie zu Hause hinausgeworfen worden sind. Selbst dann erhalten sie lediglich 21,90 Pfund (ca. 65 Mark) pro Woche — für eine Wohnung zu wenig.

Richard weiß, daß eine Bank in dieser Gegend nicht ewig leerstehen wird. „Dann gehen wir eben wieder in die Pappstadt nach Waterloo.“ Unter den Eisenbahnbrücken hinter dem Bahnhof Waterloo übernachten Hunderte von Obdachlosen aller Altersgruppen. Wohlfahrtsorganisationen teilen abends Suppe aus. Sheila McKechnie, Direktorin von „Shelter“, sagt: „Thatchers Wohnungspolitik war eine Katastrophe für arme Leute, die sich kein eigenes Haus leisten können. Ihre Politik umfaßte nur einen Punkt: Hausbesitz um jeden Preis. Dieser Preis war für die Armen zu hoch. Thatchers Politik ist gescheitert.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen