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Experiment am Menschen

■ Ab nächster Woche werden AsylbewerberInnen in die ehemalige DDR „verteilt“ KOMMENTARE

Unliebsame Probleme in die DDR abzuschieben, darin hatte die Bundesrepublik schon vor der Wende einige Erfahrung. Bisher wurde dieser Konfliktexport mit harten Devisen ausgeglichen. Neuerdings hat man dafür den Einigungsvertrag. Und dieser Vertrag sieht vor, daß die fünf neuen Bundesländer vom 1.Dezember an ihren „alten“ Brüdern und Schwestern die Menschen abnehmen sollen, mit denen sich zwar vorzüglich Wahlkampf machen läßt, die man aber ansonsten lieber nicht um sich hätte: AsylbewerberInnen. Zwanzig Prozent aller neu ankommenden Flüchtlinge werden künftig — ob sie wollen oder nicht — in Gemeinden der Ex-DDR untergebracht werden, von denen schon jetzt absehbar ist, daß sie diesem neuen Problem auf ganzer Linie nicht gewachsen sind, weder organisatorisch noch finanziell noch politisch oder menschlich.

Nichts, aber auch gar nichts ist dagegen zu sagen, daß sich künftig auch die neuen Bundesländer an der Aufnahme von Asylsuchenden beteiligen sollen. Kein Wort auch dagegen, daß es nur heilsam wäre, wenn auch die Bevölkerung der Ex- DDR lernen müßte, sich in Toleranz gegenüber politisch Verfolgten oder Armutsflüchtlingen zu üben. Aber Lernprozesse brauchen Zeit und Hilfe. Und sie dauern umso länger, je verstockter, bedrängter und verunsicherter die Lernenden sind. Wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt, weiß, daß diese Voraussetzungen dort nicht gegeben sind. Er spürt, daß dort ein Fremdenhaß herrscht, der sich nicht nur in Parolen Luft macht, sondern der lebensgefährlich ist.

In der Bundesrepublik galt — zumindest bis vor wenigen Wochen — das Grundrecht auf Asyl als eine grundgesetzlich geschützte demokratische Errungenschaft. Eine liberale Öffentlichkeit, kirchliche Gruppen, Wohlfahrtsverbände und unzählige engagierte Einzelpersonen haben hier in jahrelanger Kleinarbeit zumindest für einen minimalen rechtlichen und humanitären Schutz der Flüchtlinge gesorgt. Doch auch mit diesem Engagement konnte bestenfalls ein sehr labiles Gleichgewicht zwischen offen rassistischer Ablehnung und menschlicher Toleranz aufrechterhalten werden. In der ehemaligen DDR fehlen selbst diese minimalen Strukturen. Wer dennoch unter diesen Bedingungen Flüchtlinge in die fünf neuen Bundesländer schickt, macht aus purer bürokratischer „Gesetz ist Gesetz“-Mentalität ein zynisches und unverantwortliches Experiment am Menschen. Wo sind sie, die Bürokraten, wenn es darum geht, den BewohnerInnen einer von Arbeitslosigkeit und finanziellem Bankrott bedrohten kleinen Gemeinde klarzumachen, daß die Fremden, die dort zur Untätigkeit verdonnert in ihrer Nachbarschaft von „ihrer“ Sozialhilfe leben, ein Anrecht haben, als Menschen akzeptiert zu werden? Und wo werden die Politiker sein, wenn die erste erste Asylunterkunft in Sachsen oder Brandenburg in Flammen steht? Vera Gaserow

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