Musse und Abenteuer

■ Trampen oder die Kunst billig zu reisen

Trampen oder

die Kunst

billig zu reisen

VONMARTINSTEIN

Als „der Bus“ von Neukölln um 12 Uhr nachts losfährt, liegt die englische Internatsstadt Carne tief eingehüllt in Schnee. Von der Inhaltsangabe des Buches weiß ich, daß Smiley, „der perfekte Spion“, bald auftauchen wird, um einen Mord aufzuklären. Und während er natürlich erster Klasse von London nach Carne rollt, haben Hanne und ich 36 Stunden von Berlin bis Barcelona vor uns, weil der Bus halb so teuer ist wie der Zug.

36 Stunden Busfahren, Tortur oder Hochgenuß? — Es kommt eben auf die Einstellung an. Das ist nicht der schnellste Weg zu Sonne, Strand und Freiheit, sondern der erste Teil einer Reise. Anfängliches Konkurrenzverhalten um die besten Plätze wird spätestens an der ersten Raststätte abgelegt — wenn wir die anderen, die feindlichen Busse sehen. Wir tasten ab, verschenken Kaugummis und Erdnüsse und tauschen Comics aus — 18, 20, 22 — Re, Bock, Schneider — wer redet da von Langeweile? Im Gegenteil, 36 Stunden gemeinsamen Erlebens gehen viel zu schnell vorbei, der Abschied fällt fast ein bißchen schwer.

Unser Ziel sind die Höhlenmalereien an der Atlantikküste. Nicht nur das billigste, sondern auch das beste Mittel, dorthin zu gelangen, ist zu trampen. Natürlich, wenn du dich wohler fühlst in deiner eigenen Blechdose, wo du dir deine kleine intime Welt zurechtgemacht hast, wo du auf niemanden angewiesen bist, wo du nur bedauernd mit den Achseln zu zucken brauchst, wenn jemand am Straßenrand steht, weil doch jeder sieht, daß du randvoll gepackt hast — oder wenn du nach einer Viertelstunde Warten am Straßenrand schon panisch werden würdest, daß dich keiner mitnimmt, und genervt bist von der Hitze, den Leuten und überhaupt — dann kommt für dich diese Reiseart nicht in Frage. Trampen ist Muße und Abenteuer. Nimmt man sich Zeit, eine schöne Stelle zu suchen, ein bißchen zu quatschen oder die zu Landschaft genießen, und hält ganz nebenbei den Daumen raus, dann ist dies die sicherste Methode, interessante oder sympathische Leute kennenzulernen — die Südamerikaner mit der klapprigen Kastenente, den Fesselballonpiloten oder Silvia und Lluis. Nach zehn Minuten gemeinsamer Fahrt bei Zugwind und viel zu lauter Hispano- Rockmusik, laden sie uns ein, mit ihnen in ihr Ferienhaus zu fahren.

Belianes: Umzug der Riesen

Weit sind wir also nicht gekommen am ersten Tag unserer Reise zur kantabrischen Küste. Statt dessen sitzen wir in Belianes, einem 400-Einwohner-Kaff, wo man sich anschickt, das Fest des Schutzheiligen San Jaume vorzubereiten. Das Fest wird eingeleitet durch den Umzug der Riesen. Die Träger verschwinden unter Rock und Hose von Bauer und Bäuerin und tanzen unter dem Gewicht von 60 Kilogramm durch die Straßen. Ein Stromkabel in circa fünf Meter Höhe sorgt für Aufregung, als der Bauer sich darin verfängt, aber schon geht der Zug weiter, begleitet von den herb melodischen Klängen der Crallers und der tanzenden Kinderkette.

Der eigentliche Höhepunkt des Tages für uns ist die Sardanas, ein Tanz, der uns vor zwei Jahren schon in Barcelona aufgefallen war. Als wir damals versuchten, die Schrittfolge zu kopieren, waren wir hoffnungslos gescheitert. Es ist ein Wunder, daß alle 400 Leute, die in großen Kreisen den Platz füllen, zur gleichen Zeit in die hüpfenden Schritte einfallen. Der ganze Platz gerät in pulsierendes Wippen. Bei unseren Übungen am Rande sind wir schließlich beobachtet und zum Tanz aufgefordert worden. Auf Silvias Rat hin waren wir bereit, uns eher dem Gespött preiszugeben als die Einladung abzuschlagen. Und mit Hilfe unserer Tanznachbarn geht es dann zu aller Überraschung relativ gut. Die Tänze enden mit dem Ausruf „Bisca“ — Es lebe Katalonien!

Die Atlantikküste: Santander

Am nächsten Tag verlassen wir Belianes zur Zeit sengender Mittagshitze. Durch karge und vertrocknete aber wechselhafte Landschaften — mit örtlicher Begleitmusik aus dem jeweiligen Autoradio — nähern wir uns der verblüffend grünen baskischen Küste. Unsere Freude darüber geht in der ersten Nacht in einem Regenbad unter. Wir ziehen weiter, und umstandsgemäß suchen wir ein Zimmer. Treppe rauf, Treppe runter — nichts zu haben, aber irgendwann haben wir „Glück“. Eine dicke Pensionsbesitzerin, Typ Puffmutter, ist um unser Wohl sehr besorgt. Sie hat zufällig eine Cousine, die Zimmer vermietet. Es liegt in einem schummrigen Viertel, ist neun Quadratmeter groß, hat keine Fenster und kostet circa 55 DM! Unsere Sachen sind noch naß, und Hanne weigert sich, weiterzugehen (wir haben keine Wahl). Am Morgen packen wir früh und legen 20 DM aufs Bett.

Im Gegensatz zur Stadt und unserem miesen Zimmer ist der Campingplatz von Santander ein idyllisches Plätzchen. Wir bauen unser Zelt unter Pinien auf, plauschen und gehen Baden. Zwischen Wasser und Strand taucht Smiley in die eiskalte, intrigante Welt der Carneschule ein. Er lernt das aristokratische Lehrpersonal kennen, das sich bei guten Manieren zum Fünfuhrtee zerfleischt — in diesem bestimmten Fall ganz körperlich. Ich bin sicher, Smiley ist auf der richtigen Fährte. Auch wir nähern uns unserem Ziel.

Höhlenmalerei

Schon unterwegs — man sieht wieder, wie nützlich Trampen ist — haben wir erfahren, daß für die berühmte Höhle von Altamira Wartelisten von mehreren Monaten bestehen. Deshalb ändern wir unsere Pläne und fahren nach Puente Viesgo. Dort liegt die einzige für normale Besucher zugängliche Höhle. Gleich zu Beginn wird mit den ersten Mythen aufgeräumt. Die „Höhlenmenschen“ haben niemals in Höhlen gewohnt, sondern immer nur unter Felsvorsprüngen, was aus Knochen- und Werkzeugfunden hervorgeht. Seit 15.000 Jahren bewohnte die Spezies Homo diesen Ort. Die Höhlenbilder selbst sind circa 30.000 Jahre alt und stammen von unserem direkten Vorfahren, dem Cro-Magnon. Unser Guide führt uns an Kalkstalaktiten und -stalagmiten vorbei zur ersten Zeichnung. Ein vielsprachiges Murmeln wird von den Höhlenwänden zurückgeworfen. Der Schein der Taschenlampe folgt den Umrissen eines Wisents, das aus der Struktur der Höhle herausgeschält ist. Felsenrisse bilden die Begrenzung der arttypischen Rückenform, Kopf und Beine sind mit schwarzem Pigment ergänzt. Aus zufälligen Linien werden Tiere. Aus der Stimme unseres Guides ist die Faszination für die künstlerische Perfektion und die unvorstellbaren Zeiträume nach der was-weiß-ich- wievielten Wiederholung immer noch nicht gewichen. In knappem, einfachem Spanisch gibt er die nötigen Erläuterungen, die wir uns gegenseitig in den verschiedenen Sprachen zuraunen.

Santillana del Mar

Auf unserer Reise in die Zeit stoßen wir bis zum Mittelalter. Santillana wird auf menschenleeren Prospektbildern als „typical middelage“ angepriesen. Als „typical“ werden Käse und Kuchenspezialitäten abgebildet, als „typical“ für eine Touristenfalle stellen sich auch die Preise heraus. Nur für Momente kann ich mich der Touristenatmosphäre entziehen, beim Eintauchen in die kleinen Details der Klosterkapitelle zum Beispiel. Altamira liegt eineinhalb Kilometer von hier. Im Gegensatz zu Puente Viesgo sind der Vorplatz und das unbedeutende Museum knackevoll. Die Massen, die nicht ganz unbefriedigt wieder abziehen sollen, werden schnell durch eine Mini- Tropfsteinhöhle (ohne Malereien!) geschleust, wo der Höhlenführer für seine Fünf-Minuten-Standardtour gerne 100-Peseten-Stücke entgegennimmt. Wenigstens habe ich mir alle Motive der Höhle per Postkarte besorgt.

Nur noch ein paar Tage Strand, Sonne, Campingplatz. Alle Indizien weisen auf die verrückte Janie. Aber da kann le Carré weder mir noch Smiley etwas vormachen, Seite 120 ist zu früh für den Mörder. Ist es Stellas Mann selbst, der aus Ehrgeiz und Scham den gesellschaftlichen Fehltritten seiner Frau ein Ende bereitet; Farington, der perfide Päderast, der als einziger ab und zu die Wahrheit sagt; oder die ekelhafte Schwester des förmlichkeitsbesessenen Schulleiters? Zum Glück war ich nie auf einer Eliteschule!

Die Rückreise

Wieder einmal bestimmt das mangelnde Geld unsere Reiseroute. Weil es weder Buspläne von Bilbao noch Mitfahrgelegenheiten von Barcelona gibt, werden wir nach Berlin trampen. Trampen als Fortbewegungsmittel zwischen den Dörfern, gut! Aber 2.600 Kilometer Autobahn... Das ist ätzend, nervend, Dauerstreß — oder?

Wo sonst kann man den schwedischen Kapitän treffen, der mit seinen Stoffpinguinen redet; den amerikanischen GI, der nach seinem traumatischen Fallschirmabsturz sechs Monate im Koma lag und seitdem niemanden mehr töten will; das italienische frischgebackene Brautpaar, das glaubt, Stockholm sei die Hauptstadt Islands (im Norden eben); oder den Dänen, der uns zu Gratis-Herbstferien in Andorra zu überreden versucht, damit sein Steuerwohnsitz nicht unbeaufsichtigt ist. Nach zweieinhalb Tagen erreichen wir Berlin in einem Mercedes, der zum Verkauf an einen „Noch“-Trabantbesitzer bestimmt ist — bedacht mit einer weiteren herzergreifenden Geschichte von Verrat, Flucht und Gefängnis eines echten Flüchtlings.

Na ja, wenn euch das alles kaltläßt, dann fliegt halt nach Gomera, Halbpension, bucht vier Wochen Zauber der Karibik, wo man wenigstens das Recht hat, sich über Fehlorganisationen aufzuregen. Ich meinerseits hoffe, daß ich noch lange zum Improvisieren gezwungen sein werde.

Ach ja ... der Mörder ... le Carré ist im nächsten Antiquariat zu erstehen — zum halben Preis natürlich!