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Anklageschriften in Peking verschickt

Peking (taz) — Während im Reich der Mitte die Auguren darüber spekulieren, wann das nächste Plenum des Zentralkomitees tagen und — vor allem — was es beschließen wird, scheint zumindest ein Rätsel gelöst zu sein: Die Prozesse gegen die vermeintlichen Konterrevolutionäre vom Pekinger Frühling 1989 stehen kurz bevor.

Den Familien einiger Häftlinge wurden jüngst die Anklageschriften zugestellt, an einem hauptstädtischen Gericht hängen Plakate, die zwei Verfahren gegen angebliche Rädelsführer ankündigen. Die Eröffnung des Verfahrens kommt nicht überraschend, denn die Partei muß eine Glaubwürdigkeitskrise vermeiden. Die Bürger fragen sich ohnehin schon lange, wer eigentlich die „extrem kleine Minderheit“ sei, die laut Propaganda den großen Staatsapparat ins Wanken brachte. Außerdem will die KP kritische Fragen von Konservativen auf dem kommenden ZK-Plenum verhindern, die nun endlich Urteile sehen wollen. Das Gremium wird auf jeden Fall noch in diesem Jahr tagen, sagte Li Peng am Montag in Peking, bevor er zu einer Reise nach Malaysia aufbrach.

Nach offiziellen Angaben sind noch 355 Personen im Zusammenhang mit der Demokratiebewegung in Haft. Erst jüngst sprach die Staatsanwaltschaft jedoch von weiteren Verhaftungen. Vor die blauuniformierten Richter müssen vermutlich unter anderen der 22jährige Student Wang Dan, einer der Anführer der Studentenbewegung; der 37jährige Chen Zeming, Verleger der mittlerweile verbotenen Zeitschrift 'Wirtschaftsstudien‘ und sein Redakteur Wang Juntao (32), die als Berater der Studenten gelten. Auch dem 34jährigen Literaturkritiker und Autor Liu Xiaobo, der kurz vor dem Tiananmen-Massaker noch einen Hungerstreik begonnen hatte, wird wahrscheinlich jetzt der Prozeß gemacht.

Die Vorwürfe lauten auf „Anzettelung und Beteiligung am Aufruhr“ oder, gefährlicher für die Angeklagten, auf „konterrevolutionäre Aktivitäten“ und „Versuch des Umsturzes“. Diese beiden Delikte können mit dem Tode bestraft werden. Intern verbreiten Funktionäre aber, die Urteile würden milde ausfallen. Die Überstellung der Anklageschrift bedeutet für die Gefangenen, daß sich nun Staatsanwalt und Verteidiger sachkundig machen dürfen. Bislang waren sie — selbst nach chinesischen Gesetzen illegal — in Polizeigewahrsam oder befanden sich unter Hausarrest. Diese Form von Gefangenschaft hätte eigentlich nur ein halbes Jahr dauern dürfen. Allerdings haben die Angeklagten kein Recht, sich ihre Verteidiger selbst auszusuchen: Sie bekommen die Advokaten vom Staat gestellt. Es gibt derzeit widersprüchliche Einschätzungen, ob die Prozesse öffentlich sein werden; Pekinger Juristen vermuten aber, daß nur Familienangehörige zugelassen werden. Boris Gregor

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