: „Erschreck mich nicht mit der Heimat“
Für die in Ostdeutschland stationierten sowjetischen Soldaten und ihre Familien hat die Wiedervereinigung und das Ende des kalten Krieges nur Malheur gebracht/ Alle fürchten die Rückkehr in die Misere und das Chaos in der Heimat/ Fast alle Offiziersfrauen sind inzwischen arbeitslos ■ Von Ulrike Helwerth
Wie ein unwillkommener Zaungast auf einem großen Fest fühle sie sich. „Jetzt, wo man hier leben kann wie ein freier Mensch, müssen wir weg“, sagt Natascha (alle Namen von der Redaktion geändert).
Seit Herbst 1989 lebt die 31jährige Moskauerin in Neuruppin in Brandenburg. Mit ihrer achtjährigen Tochter zog sie aus Kasachstan ihrem Mann hinterher, der ein Jahr zuvor in die DDR stationiert worden war. Pjotr, sowjetischer Pilot, hatte bereits in Afganistan gedient und war 1986 Löscheinsätze auf den brennenden Reaktor in Tschernobyl geflogen. Mindestens drei Jahre sollte der Offizier mit seiner Familie in der DDR bleiben, nun aber fürchten Pjotr und Natascha die schnelle Rückkehr in die Heimat. Schließlich soll die sowjetische Armee bis 1994 komplett aus Ostdeutschland verschwunden sein.
Natascha erscheint das wie die Vertreibung aus dem Paradies. Selbst vor der Maueröffnung war für sie der Lebensstandard in der DDR „wie ein Schock“. Die ersten Wochen habe sie „wie im Reflex alles kiloweise gekauft, weil ich befürchtete, daß es das Morgen nicht mehr gibt.“ Die Familie hatte Glück und konnte eine moderne Zweizimmerwohnung mit Fernheizung beziehen.Nach drei Monaten fand die Ärztin außerdem Arbeit als Schwesternhelferin im städtischen Krankenhaus, verdiente dort zunächst 700 und zuletzt 1.200 Mark im Monat. Pjotr erhielt vor der Währungsunion 250 Rubel Sold im Monat auf ein Konto in Moskau überwiesen, von dem er 400 Mark umtauschen durfte. Seitdem sein Sold in D-Mark ausbezahlt wird, bekommt er 850 D-Mark pro Monat und einen Lebensmittelzuschuß. Als fixe Kosten gehen 70 D-Mark Miete und 30 D-Mark Parteibeitrag ab. Die dreiköpfige Familie lebt jetzt von rund 750 D-Mark im Monat, denn Natascha ist inzwischen erwerbslos. Kaum war nämlich die Währungsunion da, rief die Krankenhausleitung alle Frauen aus der sowjetischen Garnison zusammen, die als Hilfskräfteoft schon seit Jahren im Hause arbeiteten und teilte ihnen die Entlassung mit. Man beteuerte, wie gern man sie weiterbeschäftigt hätte, aber die Anweisung von oben laute nun einmal: alle Russinnen raus.
Im städtischen Krankenhaus traf der Rausschmiß etwa sechzig Frauen. Aber auch aus den anderen Betrieben und Einrichtungen in und um Neuruppin, aus Textil- und Schuhindustrie, Kindergärten oder Schlachthof wurden die sowjetischen Frauen gefeuert — ohne Abfindung, ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zu Zeiten der großen Ausreisewelle im letzten Jahr seien sie von den Deutschen besonders für die „dreckige Arbeit“ überall mit Kußhand genommen worden, erzählt Natascha konsterniert.
Wie Natascha und Pjotr geht es inzwischen allen in Ostdeutschland stationierten sowjetischen Offiziersfamilien. Die Wiedervereinigung und das Ende des kalten Krieges hat den rund 360.000 Soldaten und ihren 120.000 Angehörigen bisher nur Malheur gebracht: den Verlust von materiellen Vorteilen und die Angst vor der Rückkehr in die UdSSR, wo die Misere und eine völlig ungewisse Zukunft auf sie warten. Nicht von ungefähr sollen sich bereits Hunderte von sowjetischen Soldaten ausOstdeutschland gen Westen abgeseilt haben. Vor kurzem seien drei Offiziersfamilien aus Neuruppin getürmt, berichtet Natascha.
Ende September zitierten deutsche Zeitungen aus einem Brief, den 400 sowjetische Offiziersfrauen aus der Garnison Potsdam als Hilferuf an Bundeskanzler Kohl gesandt haben sollen. Sie schrieben, daß ihr Truppenteil entgegen anderer Zusagen bereits Ende 1990 Deutschland verlassen müsse und in ein Gebiet rund 150 Kilometer von Tschernobyl entfernt verlegt würde. Dort gebe es keine festen Wohnungen, die Familien müßten den Winter in Zelten verbringen und die nächste medizinische Einrichtung sei 17 Kilometer entfernt. Kohl sei ihre „letzte Hoffnung“, diese Entscheidung rückgängig zu machen.
Die konservative sowjetische Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ reagierte prompt: Der Brief enthalte zahlreiche Fälschungen. Das Blatt verschwieg allerdings, daß einen Tag vorher in der sowjetischen Armeezeitung 'Krasnaja Swesda‘ ein Brief, unterschrieben von 89 Offiziersfrauen, veröffentlicht worden war, der sich inhaltlich mit dem Schreiben an Kohl deckt. Ohne Ortsangabe berichteten die Absenderinnen, sie seien seit Anfang 1989 in der DDR stationiert und sollten im November 1990 wieder abgezogen werden. Zuvor sei ihre Einheit ein Jahr lang im Gebiet um Tschernobyl gewesen. Als Folge davon seien einige Kinder und Erwachsene an Leukämie gestorben. Man habe ihnen medizinische Untersuchungen versprochen, bisher sei aber nichts geschehen. Statt dessen sollten sie nun erneut in die Ukraine versetzt werden. Der Brief endete mit einem Appell an die Verantwortlichen in der Sowjetunion, den Soldatenfamilien diese erneuten Gefahren zu ersparen.
Natascha hat keine Ahnung, wann ihr Mann aus Neuruppin abgezogen wird, und wohin es sie dann verschlägt. „Ich traue mich nicht, daran zu denken, was bei der Rückkehr passiert.“ Schließlich besitzt sie, wie viele RückkehrerInnen, keine Wohnung in der Sowjetunion. Viele Soldaten, die bereits aus der Mongolei, Ungarn und anderen Ländern abgezogen worden seien, hätten ihre Familien bei Eltern oder Verwandten unterbringen müssen. Neue Wohnungen aber gibt es auf absehbare Zeit nicht. Zur Bekräftigung zitiert Natascha ein russisches Sprichwort: „Erschreck' mich nicht mit der Heimat.“
Angst vor Zuhause hat Natascha auch wegen der „Mafia“, organisierten Banden, die in der Sowjetunion immer mehr an Einfluß gewinnen. Denn die im Westen stationierten Familien gelten daheim als reiche Leute, bei denen einiges an Devisen und Sachwerten zu holen ist. Verdient doch ein sowjetischer Offizier in Ostdeutschland zwischen 800 und 1.200 D-Mark in Monat. Für sowjetische Verhältnisse — beim derzeitigen Schwarzmarktkurs von bis zu 13 Rubel pro D-Mark — ein Traumgehalt. Natascha erzählt von einem Nachbarn, dem bei seinem letzten Heimaturlaub in Moskau ein Adidas- Trainingsanzug verlustig gegangen ist. Als er darin auf der Straße herumspazierte, wurde er von ein paar jungen Männern umzingelt. Unter Androhung von Schlägen zwangen sie ihn, das gute Stück auf der Stelle auszuziehen.
Die gebürtige Moskauerin möchte daher solange wie möglich in Deutschland bleiben. Neuruppin gefällt ihr, obwohl Volkes Stimmung gegenüber den „Besatzern“ nicht die beste ist und es auch schon tätliche Angriffe auf sowjetische Armeeangehörige gegeben haben soll. In der alten Garnisonsstadt kommen auf 27.000 Einheimische knapp 30.000 Sowjets. Dazu verbreiten die MIG- Jäger, die den Fliegerhorst frequentieren, rund um die Uhr ohrenbetäubenden Lärm. Eine BürgerInneninitiative fordert die totale Demilitarisierung des Flugplatzes, und es mehren sich die Stimmen, die am liebsten auf der Stelle alle „Russen raus“ haben wollen.
Aber außer dem vielzitierten Zorn, der den sowjetischen Frauen vor allem vor der Währungsunion in den Läden entgegenschlug, wenn sie den Einheimischen die knapp bemessenen Waren wieder einmal vor der Nase wegschnappten, hat Natascha selbst bisher keine Feindseligkeiten erlebt. Sie wohnt allerdings im abgeschlossenen Bereich der Garnison, spricht nur ein paar Brocken Deutsch und hat, seitdem sie arbeitslos ist, kaum noch Kontakte zu Deutschen. Warum auch, fragt Natascha, „sollen uns die Leute hier gern haben? Schließlich sind wir für die meisten nur Besatzer.“
Die Tochter aus einer Professorenfamilie hält ziemliche Stücke auf die deutsche Kultur. So beeindruckte sie sehr, daß die Kinder im deutschen Kindergarten lernen, mit Messer und Gabel zu essen. „Wir haben keine Manieren beigebracht bekommen, dafür aber alles über den Marxismus- Leninismus“, sagt Natascha sarkastisch. „Meine Generation ist für die Kultur verloren. Aus uns haben sie im Prinzip Tiere gemacht. Wir sind ganz und gar damit beschäftigt, wie wir für unsere Kinder etwas zum Essen und zum Anziehen bekommen.“ Diese Probleme trieben auch die sowjetischen Offiziersfrauen in Deutschland um. Alle wüßten, daß sie in die Armut zurückkehren würden und versuchten deshalb, hier noch soviel wie möglich anzuschaffen. „Die Läden ersetzen mir das Museum. Dorthin mache ich meine Exkursionen. Ich bin froh, wenn ich meiner Tochter jetzt schon die Schuhe auf fünf Jahre im voraus kaufen kann, weil ich zu Hause keine kriege.“
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