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Beredtes „friedliches“ Schweigen

■ Saddam Hussein kündigt die zweite Endlösung der Judenfrage an — die deutsche Öffentlichkeit geht in aller Gelassenheit zur Tagesordnung über ESSAY

Ein gutes Neues Jahr alle miteinander, und daß keiner demnächst sagt, er habe von nichts was mitbekommen. Sollte es zu einem neuen Versuch der Endlösung kommen, wird er nicht so glatt vonstatten gehen wie der letzte, und die Endlöser und deren Helfer werden nicht so ungeschoren davonkommen wie es zuletzt der Fall war. Daß sich also keiner hinterher beklagt, es wäre alles viel zu schnell gegangen, so daß man nichts habe unternehmen können.

Seit Jahren verspricht Saddam Hussein, er werde Israel von der Landkarte ausradieren. Nun hat er angekündigt, er werde, im Falle eines amerikanischen Angriffs auf den Irak, als erstes gegen Israel losschlagen — auch dann, wenn Israel sich an dem Überfall auf sein Land nicht beteiligt. Es kommt also überhaupt nicht darauf an, was Israel tut oder läßt, ob es die amerikanische Aggression unterstützt oder sich vornehm aus allem raushält, es wird nicht nur in die Kämpfe verwickelt, es kommt sogar als erstes dran.

Dorothee Sölle: „Keiner soll für Texaco sterben“

Diese Nachricht ist in Deutschland mit der allergrößten Gelassenheit aufgenommen worden, sogar die Umsatzzahlen des Einzelhandels im diesjährigen Weihnachtsgeschäft waren aufregender. Alle schweigen, laut und vernehmlich. Auch die deutsche Linke schweigt, die doch sonst so gerne den „Boden der deutschen Geschichte bis nach Palästina“ dehnte, wenn es darum ging, das Unrecht zu beklagen, das den Palästinensern von den Israelis angetan wurde und für die „Opfer der Opfer“ Partei zu ergreifen. Alle großen Moralisten der Nation schweigen, Franz Alt und Otto Schily, Petra Kelly und Uta Ranke-Heinemann, Walter Jens und Willy Brandt, Horst-Eberhard Richter und Ralph Giordano. Einige schweigen nicht. Dorothee Sölle, zum Beispiel, veröffentlicht auf Seite 1 des 'Neuen Deutschland‘ eine Kolumne über „Gewalt und Frieden zu Weihnachten 90“.

Schrecklich, wie tief ein Blatt mit Tradition sinken kann, unter Erich Mielke hätte es so etwas nicht gegeben. Sölle schwafelt über „postmodernen Kapitalismus“, über den „Geist der Utopie“ und „die verschüttete Sehnsucht der Menschen“. Wo sie konkreter wird, da meint sie: „Jedes Kind hat das Recht auf einen Garten für Kinder.“ und „Keiner soll für Texaco sterben.“ Für Siemens vermutlich schon, die Firma kommt ihr nicht in den Sinn, da ist ihr die imperialistische US-Jacke näher als das deutsche Unterhemd.

Wie seltsam, dieselben Leute, die immer so genau darüber informiert waren, wie groß der Anteil des US- Kapitals an den saudischen Erdölfeldern ist und die einem aus dem Kopf sagen konnten, welchen Rang die gemieteten Leibwächter von Präsident Noriega in der israelischen Armee hatten, dieselben Leute müssen sich ausgerechnet von der CIA die Namen der Firmen und Unternehmen vorsagen lassen, die von der BRD aus den Irak mit Waffen und Rüstungstechnik beliefern. Da wollen sie es gar nicht so genau wissen. Und wenn ein paar deutsche „Geiseln“ aus dem Irak heimgeflogen werden, fragt auch keiner, was sie dort eigentlich getan haben.

Auch die Evangelische Kirche schweigt nicht. Sie fordert mit Nachdruck „eine friedliche Lösung des Golfkonflikts“, denn ein Krieg würde „unendliches Leid über Tausende von Menschen“ bringen. Wie wahr, auch dem kann man nur zustimmen. Die Zustimmung fiele einem wesentlich leichter, wenn die Evangelische Kirche schon 1988, als Tausende von Kurden massakriert wurden, das Leid beklagt hätte, das da mit deutscher Hilfe über die Menschen gebracht wurde, und wenn sich die evangelischen Bischöfe zu der kleinen symbolischen Geste durchgerungen hätten, den deutschen Technikern protestantischen Glaubens, die in Samarra an der Herstellung von chemischen Waffen beteiligt waren oder noch sind, ein klein wenig mit dem Jüngsten Gericht zu drohen. Dies freilich passiert nicht. Man hat schon immer lieber die Waffen gesegnet als deren Hersteller verdammt.

Deutsche Anti-Atom-Ärzte in Bagdad und Kairo

Die „Ärzte zur Verhinderung des Atomkrieges“ schweigen auch nicht. Sie fahren nach Bagdad, Kairo und Amman, inspizieren die Hospitäler und kommen dann zu dem überraschenden Schluß: „Ein Krieg würde einen Friedhof Nahost nach sich ziehen.“ In der gesamten Region gebe es nur 400 Betten für Verbrennungsopfer, bei chemischen, biologischen oder atomaren Angriffen sei „überhaupt keine Hilfe möglich“. Bis nach Tel Aviv haben es die Ärzte zur Verhinderung des Atomkrieges nicht geschafft. Als Experten wissen sie: Jüdische Medizinmänner können Wunder vollbringen und außerdem: gegen ABC-Waffen, die auf Juden abgefeuert werden, helfen Knoblauch und Gefillte Fisch am besten.

Man soll freilich nicht in vorauseilende Undankbarkeit verfallen. Die Ärzte zur Verhinderung des Atomkrieges würden sicher, sollten sie unerwarteterweise mit ihrem ersten Vereinsziel scheitern, eine größere Ladung Mullbinden und Einwegspritzen an das Hadassa-Krankenhaus in Jerusalem schicken, vorausgesetzt, es wäre ein ARD- oder ZDF- Team zur Stelle, um die Ankunft der Pakete zu filmen.

Die Frage, warum die deutsche Öffentlichkeit auf die mögliche Vernichtung Israels so unirritiert reagiert, wo doch die besten Köpfe dieser Öffentlichkeit ständig darüber nachdenken müssen, ob Israel „seine Seele verliert“ und wie es denn passieren konnte, daß aus den „Opfern von gestern die Täter von heute“ werden konnten, diese Frage läßt sich nicht leicht aber doch beantworten.

Hussein und die stille deutsche Begeisterung für tote Juden

Eine zweite Endlösung der Judenfrage wird nicht unbedingt gewünscht aber billigend in Kauf genommen. Sie hätte, außer für die unmittelbar Betroffenen, einige Vorteile zu bieten. Zum einen würde sie einen dichten Rauchschleier über die erste legen, die damit in den Kulissen der Geschichte verschwinden würde. Zum anderen würde sie eine Welle der Hilfsbereitschaft auslösen, die alle bisherigen Aktionen dieser Art, einschließlich der Rußlandhilfe von Bild und ARD, zu lahmen Wohlfahrtsrülpsern degradieren würde. Bei der Begeisterung für tote Juden, die man in Deutschland pflegt, und bei den Schwierigkeiten, die man mit lebenden hat, wäre dies die optimale Gelegenheit, die eigene Wiedergutwerdung zu demonstrieren. Ein paar Flugzeugladungen mit Wolldecken und Milchpulver, einige „Einsatzzüge“ des Technischen Hilfswerks im zerstörten Tel Aviv — könnte es einen überzeugenderen Beweis dafür geben, daß die Deutschen, im Gegensatz zu den Juden, aus ihrer Geschichte gelernt haben?

So weit soll es nicht kommen. Wer heute das Maul hält, dem wird es morgen nicht erlaubt werden, sich als Samariter aufzuführen. Und wer gestern zum Nulltarif die Klappe aufgerissen hat, der bekommt heute eine rein. Henryk M. Broder

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