Hoffnungsloses Händeklatschen

In Tokio feierte man das Ende des japanischen Booms/ Zwanzigprozentige Preissteigerungen, sinkende Gehälter und Überstunden ohne Bezahlung/ Dennoch in Zen-Tradition „mit freiem Geist und freier Seele“ ins neue Jahr  ■ Aus Tokio Georg Blume

Bonenkai — Party, die das Jahr vergessen macht — nennen sich die in Japan mal förmlichen, mal geselligen Firmentreffen zum Jahresende. Vergessen soll man hier in guter buddhistischer Zen-Tradition die Leiden des alten Jahres.

Dreimal in die Hände geklatscht, und der Widerhall schallte um die Welt. So waren sie es gewöhnt, die Aktienhelden von Tokio, die Broker und Trader, wenn sie sich traditionsgemäß zum Jahresschluß auf dem Börsenflur versammelten und mit dem alten japanischen Klatschritual die vollbrachte Jahresleistung feierten. Der Rest der Welt staunte. Denn jedesmal gab es zu Neujahr in Tokio neue Aktienrekorde zu vermelden, neue Bilanzrekorde, neue Profitrekorde. Ist das japanische Rekordzeitalter schon vorbei?

Vom „dunklen Jahresende an der Börse“ spricht das Tokioter Wochenmagazin 'Aera‘ und meldet einen Rückgang der Bonusgehälter für Börsenmakler um 20 Prozent zum Jahresende. Das hat in führenden Kreisen Signalwirkung. Ist es denn möglich, daß Japans neue Reiche plötzlich wieder weniger verdienen? Obwohl zwischenzeitlich scheinbar hinlänglich bewältigt, hat der Tokioter Börsensturz von 1990 tiefe Spuren hinterlassen. Jenseits der glitzernden Fassade andauernder Prosperität mehren sich in Nippons Alltag die Zeichen eines wirtschaftlichen Stimmungsumschwungs.

Erstaunt runzelt die Besitzerin eines Haushaltswarenladens im Tokioter Wohnvorort Todoroki die Stirn. In der Hand hält sie die neue Januarpreisliste für Schnellkochtöpfe eines großen japanischen Herstellers. „Das sind ja Preissteigerungen von über 20 Prozent“, stöhnt die Ladenchefin. „So was kauft doch keiner mehr.“ Und dann stimmt die versierte Kleinunternehmerin ein Klagelied auf die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen den Gehältern der Menschen und den steigenden Warenangeboten an. Quintessenz: „Die einfachen Leute kommen da nicht mehr mit.“ Nicht nur die einfachen Leute. In Harajuku, dem führenden Tokioter Modeviertel, klagten die Inhaberinnen ausgewählter Boutiquen über das miese Dezembergeschäft mit Luxusartikeln für die Stadtschickeria. „Meine Idee war es, neben dem Modegeschäft ein Café einzurichten, wo englisches Gebäck zu haben ist“, berichtet eine Boutiqueleiterin. „Das lass' ich jetzt lieber. Die Zeit für solche Extravaganzen ist vorbei.“

Dabei schien gerade Tokio bislang für jede Extravaganz empfänglich. Kunstwerke brachten hier Millionen ein. Mercedes-Limousinen verkauften sich wie warme Semmeln. Kaufhäuser führten nur noch französisches Parfüm. Doch der Trend zu immer mehr und immer teureren Produkten ist offenbar gestoppt. An der New Yorker Kunstbörse fielen bereits im November die Preise, als die üblichen japanischen Kaufangebote ausblieben. Vergangene Woche sagte Nissan die geplante Lizenzproduktion des neuen VW-Passats ab, weil sich das Auto zu Preisen um die 50.000 Mark nicht mehr verkaufen ließ. Vor allem aber zeigten sich am Tokioter Immobilienmarkt die ersten Einbrüche. Aus dem schnellen Spekulationsgeschäft mit Grund und Boden hatten viele in den vergangenen Jahren ihren neuen Reichtum geschöpft.

Die Regierung in Tokio setzt den Marktsignalen freilich weiterhin unverdrossenen Optimismus entgegen. Als „immer noch sehr stark, nur nicht mehr übermäßig stark“ qualifizierte Vize-Finanzminister Makato Utsumi jüngst das japanische Wirtschaftswachstum. Keine Gelegenheit lassen die Regierungsverantwortlichen aus, um die beteuerte Unabhängigkeit ihres Landes von steigenden Ölpreisen und den Rezessionschancen in den USA zu betonen. Sie stützen sich auf die Weissagungen der Forschungsinstitute, denen Wachstumszahlen zwischen 2,9 Prozent und 4,2 Prozent fürs kommende Jahr vorschweben (für 1990 sind 6 Prozent geschätzt). Kritische Marktbeobachter haben da freilich schon ganz andere Szenarien entwickelt.

Einer von ihnen ist Kenneth Courtis, Chefberater der Deutschen Bank in Tokio. Die japanische Wirtschaft zeige „die ersten Zeichen einer Reaktion auf die rezessiven Auswirkungen höherer Zinsen, niedriger Kapitalkosten und einer rapide rückläufigen Weltwirtschaft“, argumentiert Courtis und verweist auf die Schwachpunkte im japanischen Finanzgebäude. Er nennt die zu hohen, absturzgefährdeten Immobilienpreise und malt den Tokioter Großbanken eine schwarze Zukunft, die 27 Prozent ihrer Vermögenswerte auf Immobilienkredite stützen. Er sagt den japanischen Unternehmen Kapitalknappheit voraus und behauptet: „Der Markt hat den Rückgang der Gewinne noch nicht verdaut, der in den nächsten Monaten sichtbar werden wird.“

Tatsächlich sind die großen japanischen Banken und Wertpapierhäuser gerade erst dabei, ihre Verluste aus dem Börsengeschäft in diesem Jahr ausfindig zu machen. Die zwölf Tokioter City-Banken, von denen sieben zu den zehn größten der Welt zählen, meldeten im Schnitt Profiteinbußen von über 27 Prozent in der Zeitspanne April bis Oktober. Den großen japanischen Versicherungen wird es nicht besser ergangen sein. Wie ernst es bereits steht, läßt sich an den Vorkehrungsmaßnahmen des berühmten Nomura-Wertpapierhauses erkennen. Dort befahl die Firmenleitung aus Kostengründen ihren weiblichen Angestellten, sprich: Sekretärinnen, keine Überstunden mehr zu machen. Falls dies aber unumgänglich sei, so wurde den Frauen nahegelegt, die Überstunden doch auf „Privatinitiative“ hin zu schieben — also ohne Bezahlung. Für ein Haus mit dem Namen Nomura grenzt das schon an ein Kavaliersdelikt.

Das Vergessen des alten Jahres bedeutet auch, im neuen Jahr mit freiem Geist und freier Seele zu erwachen. Darin kann natürlich auch heute Japans Chance liegen. Und deshalb wird zum Bonenkai weiterhin kräftig in die Hände geklatscht.