: Ein positiver Normalisierungsprozeß
■ Die Abwanderung aus Ostdeutschland ist nicht nur ein „Ausbluten“ KOMMENTARE
Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr“, riefen die Menschen einst auf den Straßen von Leipzig. Nun ist die DM seit einem halben Jahr dort, aber die Menschen bleiben keineswegs in Ostdeutschland. 10.000 Sachsen kommen trotzdem monatlich zur DM — nach Westdeutschland. Aus Brandenburg wurden kürzlich ähnliche Zahlen gemeldet. Und wenn man diese Zahlen auf die ganze ehemalige DDR hochrechnet, ist die Völkerwanderung von Ost- nach Westdeutschland kaum geringer als in den Monaten vor der Währungsunion. Nur kommen die Menschen jetzt nicht mehr über Systemgrenzen hinweg zur DM, sondern ganz marktkonform aus Regionen mit niedrigen Löhnen, hoher Arbeitslosigkeit, schlechten Lebensbedingungen in die Regionen, in denen der Rubel rollt.
Das ist prinzipiell nicht viel aufregender als die Wanderungsbewegung zwischen irgendeiner strukturschwachen Region und den industriellen Kerngebieten, also zum Beispiel zwischen Ostfriesland und Baden-Württemberg. Die 10.000 sächsischen Abwanderer und all die anderen aus der ehemaligen DDR sind Teil eines gesellschaftlichen Ausgleichs- und Normalisierungsprozesses in der sozial gespaltenen gesamtdeutschen Gesellschaft. Statt nur immer das drohende „Ausbluten“ der neuen Bundesländer zu beschwören, sollte die Tatsache freudig begrüßt werden, daß übers Jahr gesehen Hunderttausende in den Krisenregionen ihr Schicksal aktiv in die Hand nehmen und durch Wechsel des Wohnorts der Misere zu entkommen suchen, anstatt regungslos und passiv an einem Ort zu verharren, der ihnen mehr als ungewisse Lebenschancen bietet.
Manches Indiz spricht im übrigen dafür, daß die ostdeutschen Länder nicht nur qualifiziertes Fachpersonal nach Westen exportieren, sondern auch einen Teil ihres Arbeitsmarktproblems. Die Schwarzarbeit im Westen hat sprunghaft zugenommen, und in der Zunahme des einfachen Straßenhandels in den westdeutschen Großstädten drückt sich eine Zuwanderung von Menschen aus, die auch ohne festen Arbeitsvertrag ihr Glück im Westen versuchen wollen. Das Problem ist nur, daß durch diese Wanderungsbewegung Qualifikation aus den neuen Bundesländern abfließt, die zum wirtschaftlichen Wiederaufbau dringend nötig wäre. Das schafft einen sozialen und politischen Druck in Richtung auf höhere Löhne und Gehälter, der auf der anderen Seite von vielen Betrieben und auch von den finanziell am Abgrund operierenden öffentlichen Körperschaften in den neuen Bundesländern kaum verkraftet werden kann. Gelöst werden kann dieses Problem letztlich nur durch weitere Transferleistungen aus dem Westen. Eine Herausforderung für kreative gesamtdeutsche Politik. Martin Kempe
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