: Moskaus erstes Telefonbuch
Das deutsch-sowjetische Projekt „Wsja Moskwa“ ■ Von Richard Laufner
Herr Scholz ist kein Kaufmann“, sagen etwas abschätzig die Vertreter der Nürnberger Großdruckerei, die er demnächst vor dem Landgericht wiedersehen wird. „Herr Scholz ist kein Kaufmann“, vermerken auch seine russischen Partner im Verlag „Moskowski Rabotschi“. Doch das ist eher ein Kompliment — für das er sich allerdings trotz 350 Tagen Arbeitseinsatz am gemeinsamen Buchprojekt Wsja Moskwa/All Moscow nicht sehr viel kaufen kann. Nur: Wenn allein kaufmännische Rationalität gewaltet hätte, wäre das spektakulärste deutsch-russische Joint-venture im Verlagsbereich gar nicht erst zustande gekommen. Das ProduktWsja Moskwa, 780seitiger Stadtführer und Adreßbuch zugleich, das 1896 erstmals verlegt wurde und nun 54 Jahre nach der letzten Ausgabe anno 1936 wieder erscheinen darf, ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zu Glasnost, also demokratischer Kultur. Das folienkaschierte Opus mit der vierfarbigen Fotocollage auf dem Titel ist zugleich ein Schritt zu größerer ökonomischer Transparenz und Effektivität. Aber von der werden vermutlich einmal ganz andere profitieren.
Wenn Bernd E. Scholz, Inhaber des Marburger Verlags „Blaue Hörner“, über das Joint-venture Wsja Moskwa spricht, greift er ab und zu unwillkürlich nach dem gleichnamigen Band im A4-Format. Wie um sich zu versichern, daß es tatsächlich erschienen ist, dieses Produkt einer ganz ungewöhnlichen Verbindung, die sich 1987 auf der Moskauer Buchmesse anbahnte und im Juni 1989 formell geschlossen wurde. Hier der Slawist mit dem Kleinverlag aus dem ländlichen Vorort Marburgs, untergebracht in einem fußkalten, garagengroßen Raum, wo früher westfälisches Schnittbrot vertrieben wurde. Im Bücherregal die Manifeste der von Stalin verfolgten georgischen Literatengruppe, die dem Verlag den Namen gab. Dazu ein Kopierer und eine EDV-Anlage mit dem Glanzstück des Verlags: eine spezielle Computersoftware für russische Sprache und Verlagsarbeit.
Diese Verbindung von Sprach- und EDV-Expertentum sorgte für das Interesse des so ungleichen Partners: Der Verlag „Moskowski Rabotschi“ („Moskauer Arbeiter“) mit seinen 200 Mitarbeitern, in einem sechstöckigen Jugendstilhaus am Chistoprudny-Boulevard der Neunmillionenmetropole der UdSSR gelegen, mit täglich einer neuen Buchproduktion und jährlich 15 Millionen Bänden, hat zwar ein ambitioniertes literarisches und soziologisches Programm. Aber er ist auch auf der Suche nach westlichem Computer- Know-how und Geschäftskontakten.
Mitte Januar letzten Jahres unterzeichneten Bernd E. Scholz und Direktor Dimitrij V. Jevdokimov ein eng beschriebenes sechsseitiges Papier, in dem ehrgeizige gemeinsame Pläne skizziert waren: unter anderem die Einführung der digitalisierten Buchproduktion beim „Moskauer Arbeiter“, Entwicklung und Vertrieb von Verlagssoftware — und vor allem die gemeinsame Produktion des besagten Adreßbuchs in einem eigens gegründeten Joint-venture. Damit sollten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Nur dieses Joint-venture setzte den Moskauer Partner in die Lage, eigenständig In- und Exportgeschäfte zu betreiben und vor allem: Devisen zu erwirtschaften.
Die sollten durch das Buchprojekt Wsja Moskwa/All Moscow mit 300.000 russisch- und 100.000 englischsprachiger Auflage reichlich kommen. Für Außenstehende ist nach wie vor unvorstellbar, wie eine Stadt von der Größe Moskaus über ein halbes Jahrhundert ohne Telefonbuch, korrekte Stadtpläne und ausführliche Adreßbücher existieren konnte. Die Stalinisten handelten gemäß der Devise „Wissen ist Macht“ und kassierten selbst diese elementaren Orientierungsmittel.
Um so wahrscheinlicher die übergroße Nachfrage nach dem aktuellen Nachschlagewerk mit 26.000 Telefonnummern und Adressen von der Werkstatt für Harfen bis zum Tophotel, von Anwalt bis Zirkus, religiösen Vereinigungen bis selbst zum KGB, ergänzt um Stadtpläne, 90 Seiten Farbfotos und verschiedenen Beiträgen zur Stadt Moskau. Um so wahrscheinlicher auch das Interesse des Auslands an einem solchen Nachschlagewerk über die russische Metropole mit jährlich zwei Millionen Besuchern.
Enttäuschend allerdings die Resonanz bei der Anzeigenakquisition durch eine Frankfurter Werbeagentur: Kein Quadratmillimeter der 44.000 DM teuren Seiten — der Preis des Hamburger Branchenfernsprechbuchs — wurde von westlichen Firmen belegt. Die geschätzten Devisen gingen so nur als Druckrechnung von 4,2 Millionen DM von Ost nach West statt in die Kassen des Joint-venture. Im Gegensatz zur russischen Auflage, die bald nach Erscheinen im September dieses Jahres schon zur Hälfte verkauft war, vollzieht sich der Verkauf von All Moscow hierzulande trotz Presselob nicht so einfach. Dabei setzte Scholz durch, daß der ursprüngliche Verkaufspreis schon zur Frankfurter Buchmesse von 198,- auf 39,80 DM gesenkt wurde. Mittlerweile versucht der Marburger Kleinverleger, das Buch in großen Zahlen internationalen Luftfahrtgesellschaften anzubieten.
An dem Projekt hat Michail Schaiber, Ratgeber des Verlegers, der den Blaue-Hörner-Band Glasnost dichtet übersetzt hat, einen wichtigen Anteil. Der 67jährige Russe und Jude, der seit 1934 in Moskau lebt, hat wie Wolfgang Leonhard und Markus Wolf dort die berühmte Karl-Liebknecht-Schule besucht. Die Eltern sind Opfer des Stalinismus. Michail Schaiber wurde als Publizist und Übersetzer ein engagierter Verfechter von Glasnost und einer Perestroika, die „mittlerweile um Kilometer weiter sein müßte als Gorbatschow“. Nur mühsam können Schaiber und Scholz den Ärger verbergen, wenn die Sprache auf den Versand der Carepakete kommt. Die neue deutsche Hilfsbereitschaft paßt überhaupt nicht zu den frustrierenden Erfahrungen bei der Suche nach potenten Wirtschaftspartnern für Wsja Moskwa/All Moscow. Auch nicht zu der kümmerlichen Resonanz bei Parteien und Behörden: Nur die CDZ und das Außenministerium haben jeweils einen Band gekauft. Almosen statt Hilfe zur Selbsthilfe. „Und Gorbatschow hat man bei seinem Besuch im November als Geschenk einen Teddy in die Hand gedrückt, statt ihm die russisch-englische Ausgabe in Safranleder zu überreichen.“
Wsja Moskwa/All Moscow. Adressen, Telefonnummern, Stadtpläne und Artikel
Blaue Hörner Verlag Marburg, 780 S., 39,80 DM
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