Somalia blickt in eine ungewisse Zukunft

Die Tage von Siad Barre sind gezählt — doch über den weiteren Weg des Landes gibt es keine klaren Vorstellungen/ In der Hauptstadt Mogadischu verschlechtert sich die Lage/ Verhandlungen oder Machtkampf bis zum bitteren Ende?  ■ Von Bettina Gaus

Nairobi (taz) — „Vor meinem Haus lag drei Tage lang ein totes Kind. Dann hat irgend jemand es in ein Laken eingeschlagen und weggetragen,“ erzählt ein somalischer Fahrer in der italienischen Botschaft von Mogadischu. Er schildert keinen Einzelfall: In den Seitenstraßen, auf Plätzen und in Toreinfahrten der somalischen Hauptstadt vermodern Leichen, die niemand zu beerdigen wagt, aus Angst, in einen Schußwechsel zu geraten. Zu den Schrecken des Bürgerkrieges gesellt sich jetzt die Furcht vor Seuchen, vor Cholera und Typhus.

Die italienische Botschaft gehört zu den am besten geschützten Gebäuden der Stadt, obwohl auch dort Mitarbeiter und Familien, die auf die Evakuierung warteten, stundenlang hinter Wänden kauerten oder flach auf dem Boden lagen, während um das Gelände herum Maschinengewehrsalven dröhnten und Granaten explodierten. Mehrere Geschosse durchschlugen die Mauern. Hinter dem Gebäude detonierte eine Bombe. Aber die Verhältnisse für die Menschen, die sich dorthin retten konnten, sind immer noch weit besser als die Lage der somalischen Bevölkerung: Es gibt hier zwar kein Wasser zum Waschen, aber doch wenigstens zum Trinken. Die Armeeverpflegung, von der sich die Ausländer ernähren, ist kein Festmahl — aber sie stillt doch den Hunger.

Aber der Fahrer kann sich nicht in der relativen Sicherheit der Botschaft ausruhen. Jeden Tag wagt er sich hinaus: „Meine Familie hat nichts zu essen. Ich muß ihnen wenigstens irgend etwas bringen.“ So wie er pilgern jeden Tag Hunderte die Straßen entlang. Sie tragen Koffer und Bündel, oder sie halten Kanister in den Händen — offenbar auf der Suche nach Wasser. Ein Gang durchs Stadtzentrum ist ein Spiel mit dem Tod: „Mein Bruder ist gestern früh zu seinem Haus gegangen, das in einer besonders schwer umkämpften Zone liegt, um noch etwas herauszuholen,“ berichtet die Ehefrau eines ranghohen Regierungsbeamten. „Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.“

Tausende sind in den letzten Tagen ums Leben gekommen. Gefahr droht von allen Seiten: Von Soldaten, von Widerstandskämpfern, von Plünderern. Den Guerilleros der Rebellenbewegung USC (Vereinigter Somalischer Kongreß) ist es bislang nicht gelungen, strategisch wichtige Einrichtungen wie die Radiostation, den Flughafen oder den Präsidentenpalast zu erobern. Die Soldaten der Regierung verfügen über die bessere militärische Ausrüstung. Aber die Moral der Truppe ist schlecht: Die weitaus meisten Plünderungen werden von Angehörigen der Regierungsstreitkräfte begangen. Viele desertieren und benutzen ihre Waffen nur noch, um das eigene Überleben zu sichern. Sie stehen ohnehin auf verlorenem Posten: Das Regime von Siad Barre, der mehr als zwei Jahrzehnte lang jede Opposition blutig unterdrückt hat, ist am Ende.

Schon seit Monaten wurde über Barre gespottet, er sei nur noch der „Bürgermeister von Mogadischu“ — die anderen Landesteile sind größtenteils in der Hand von Rebellenbewegungen. Gründe, ein erbitterter Gegner Siad Barres zu sein, gibt es genug: Der Präsident, dem in den letzten Jahren immer wieder besonders schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt wurden, regierte, als sei Somalia sein Privatbesitz. Fast alle wichtigen Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung besetzte er mit Mitgliedern seiner Familie. Barre häufte immensen persönlichen Reichtum an, während die Bevölkerung nicht wußte, wie sie von einem Tag zum anderen überleben sollte. Vor Monaten schon lagen im Benadir-Krankenhaus von Mogadischu verhungernde Kinder. Eine Krankenschwester verdiente zuletzt gerade noch so viel im Monat, wie ein Kilo Hammelfleisch auf dem Markt kostete. Ein Bündel Geldscheine von etwa fünf Zentimetern Höhe reichte gerade für eine Restaurantrechnung. Ausländische Hilfe floß kaum noch.

„Es gibt keine militärische Lösung“

Niemand glaubt, daß Siad Barre sich langfristig noch halten kann. Vor seinem endgültigen Sturz aber wird wohl noch viel Blut fließen. Und dann? Somalias Zukunft ist ungewiß. Beobachter fürchten, daß Machtkämpfe zwischen verschiedenen Rebellengruppen ausbrechen werden, die jetzt in ihrem Wunsch vereint sind, die Regierung zu stürzen. Die Hinweise mehren sich, daß Rivalitäten bereits begonnen haben: Seit Tagen warten die USC-Kämpfer in Mogadischu auf Vestärkung anderer Gruppierungen — warum ist sie noch immer nicht eingetroffen? Somalias ehemalige Kolonialmacht Italien, deren Botschaftsangestellte als einzige Europäer vor Ort weiterarbeiten, versucht noch immer, die Bürgerkriegsparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Rom schlägt als Grundlage für Gespräche vor, daß Siad Barre einen großen Teil seiner Machtbefugnisse aufgibt, als Staatspräsident jedoch im Amt bleibt. „Es gibt keine militärische Lösung in diesem Konflikt,“ sagt italiens Botschafter Marion Sica. Der USC sieht das anders: Seine Sprecher haben den Vorschlag unmißverständlich abgelehnt. Mitglieder der Manifesto-Gruppe dagegen sprechen sich grundsätzlich für einen Waffenstillstand und Verhandlungen aus. Hier liegt der Konflikt offen vor aller Welt.

Die Manifesto-Gruppe — benannt nach einem „Somalischen Manifesto“, das im Sommer 1990 die Zustände im Land benannte und verurteilte (dokumentiert in taz, 6.8.90) — ist ein Zusammenschluß von 114 Intellektuellen, Clanführern und Dissidenten, die unterschiedlichen Gruppierungen angehören, und in dem viele Beobachter die nahezu einzige Hoffnung sehen, nach einem Sturz Barres weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Wenn es gelingen würde, eine Übergangsregierung zustande zu bringen, in der sich alle Gruppen der Gesellschaft und auch alle Widerstandsbewegungen angemessen vertreten fühlen, dann wäre dies wenigstens eine Chance, die Wunden der Vergangenheit heilen zu lassen.Aber die älteste Guerillabewegung, die SNM, ist in der Manifestogruppe nicht vertreten. Und der USC hat bereits deutlich gemacht, daß er sich aufgrund des hohen Blutopfers in Mogadischu als führende Kraft in Somalia versteht.

Ideologische Differenzen lassen sich zwischen den verschiedenen Gruppen nicht erkennen. Für Frieden, Demokratie, Freiheit und Wahrung der Menschenrechte treten alle ein — aber wer tut das auf dem Papier nicht? „Wir wären imstande, sofort eine Übergangsregierung zu bilden“, sagte Mohammed Nur von der Manifesto-Gruppe Anfang Dezember in Mogadischu. Die sollte seiner Vorstellung nach im Amt bleiben, bis die Probleme Somalias gelöst sind — einige Jahre. Von freien Wahlen war dabei nicht die Rede.

Obwohl Somalia zu den wenigen Ländern in Afrika gehört, die keine größeren religiösen, kulturellen und ethnischen Konflikte in ihren Grenzen auszuhalten haben, ist die unübersichtliche Vielfalt der somalischen Clans mit ihren wechselnden Fehden und Bündnissen für den Außenstehenden fast nicht zu verstehen. Das Wort des Familienoberhaupts gilt weit mehr als das irgendeiner Regierung. „Jeder Somali ist sein eigener Sultan,“ lautet eine in Mogadischu gängige Redewendung, die stets mit einer Mischung aus Stolz und Selbstironie vorgetragen wird. Ein verfeindetes Volk von Sultanen zu versöhnen — das ist eine fast unüberwindlich schwere Aufgabe.