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Es war einmal ein Bein

■ »Im Stehen sitzt es sich besser«, ein Irrentheaterstück über Kaspar Hauser im Studio der Akademie der Künste

Auf der Bühne ist vornehm gedeckt und vornehm geht es zu, denn der Abend ist symbolischen Kuriositäten gewidmet. »Reizend, entzückend, charmant«, bezaubern sich die Tischgäste gegenseitig mit Liebenswürdigkeiten, die Kapelle spielt frisch auf.

Selbstverständlich ist hier aber gar nichts, das haben die Schauspieler in ihrer Person gleich zu erkennen gegeben, und sie sind somit selbst symbolische Vervielfältigungen des Kaspar Hauser und dessen Widerparte gewesen. Acht geistig behinderte Menschen spielten mit vier gesunden [das sind die, die krieg machen, umwelt zerstören, sich selbst und die wahrheit verloren haben. sezza] ein Stück in zehn Bildern über Kaspar Hauser und nach Motiven von Meret Oppenheim. Somit war die Inszenierung quasi horizontal geschachtelt, jede kleinste Geste bedeutungsbesetzt, weil eben keine Geste selbstverständlich ist, wenn man manche Gesten ausführen kann, andere aber nicht. Und so war das Schauspielern selbst ein Geschenk für die Spieler, der Charme der Inszenierung lag in jedem Detail der Grenz-Überwindung dieser Behinderungen, die irgendwo auch nur kleine persönliche Besonderheiten sind. Und Kaspar Hauser ist auch ein kleiner, besonderer Mensch, der aber zum kleinen normalen Menschen gemacht werden soll und da haben wir im thematischen Dejá-vu noch einmal, was in jedem Szenendetail dieses Stückes sowieso passiert.

Die Menschen kommen als Kuriositäten daher, die Frage nach der Sympathie löst sich von selbst im Gefälle von stark und schwach. Kaspar muß viel lernen, er kann nichts, denn er ist ja bekanntlich vom Himmel gefallen, er robbt sich auf allen Vieren heran, also muß er laufen lernen. Er steht auf einem Granitberg mit weißer Arbeitsjacke, also muß er arbeiten lernen. Er wird von seinem Dompteur, einem Aristokraten des vorigen Jahrhunderts mit graublauen Locken, gefesselt, so muß er eigentlich auch noch schreien lernen, lautlos vorerst. Aber er liebkost sein Holzpferd. Kaspar ist eine behäbige Last, vielleicht nicht sich selbst, aber anderen, und das zählt ja wohl, oder? So wird ihm das Laufen mit seinen eigenen Füßen untergeschoben, die Knie werden ihm von hinten eingestoßen, Kaspars Frechheit reicht nicht ganz aus, sie kommen mit Sicheln auf ihn zu, und nun muß er auch noch sprechen lernen, viele verschiedene kommen daher und alle haben ihre Botschaft von oooo und aaaa zu bieten und überbieten sich doch nie... Dann wird getanzt, und eine wunderhübsche, prinzessinnenhafte Dame im Abendkleid und Rollstuhl wird über die Schulter gehoben und im Kreise gedreht, und im Kleinen hat sich plötzlich alles auf den günstigsten Nenner überhaupt gebracht. Und als dann vornehm gegessen wird, und sich säuerberlich in Konversation ergangen wird, rutschen plötzlich zwei Krücken unterm Tisch durch, jemand mit langem Trinkhalm macht ein Gemassel auf dem Teller, ein anderer kriegt einen Schreikrampf und Kaspar soll auch noch essen lernen, wozu, warum, warum...

Dann kommt eine rote Cocktaillady, die ihre laszive Sofapose verlassen hat und kündigt zum Jazzswing das allerneueste: »... und die Liebe ist doch auch egal!« (ich muß noch eine Weile nachdenken, ob ich dieser These zustimmen kann), ein mittelalterlicher Junker fällt von den Füßen auf die Hände, wird Lehrer für Gesichtsgymnastik. Es ist ein hingebungsvoll-makabrer Klamauk, den sicher auch die Darsteller selbst erfunden haben: »Es war einmal ein Bein, das wollte zum Arbeitsamt gehen, da tanzte es zu Hause noch ein bißchen auf dem Tisch rum — schon war es zu spät fürs Arbeitsamt...«

Dieser unaufhörliche Alltagsdadaismus versetzt die Zuschauer pausenlos in Entzücken, wechselt mit ernsthafter Situationspoesie: Hinter einer dampfenden Schale sitzt jemand mit goldenem Gesicht. Kaspar frißt sein Seil, die Selbstbefreiung kommt sehr direkt, doch dann fangen sie ihn in einem schwarzen Tuch ein, sie, die selbst nicht laufen können auf lauter verwechselten Schuhen, den falschen Schuh los zu werden ist das größte Problem, man sollte sich wirklich nicht jeden Schuh anziehen... doch dann wird noch einmal getanzt und bei all dem Applaus ruft eine Schauspielerin: »Zugabe!!!« Sophia Ferdinand

Im Stehen sitzt es sich besser, eine Gemeinschaftsproduktion des Theater Thilewá mit geistig Behinderten, Regie: Christine Vogt. 15.-19.1., 20 Uhr, im Studio der Akademie der Künste.

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