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Wir haben die Pressefreiheit—noch...

■ Interview mit Andrej Gurkow, der für 'Moskowskije Nowosti‘ in Köln arbeitet

Moskau (ap) — Präsident Michail Gorbatschow hat im Obersten Sowjet eine zeitweilige Einschränkung der Pressefreiheit gefordert. Angesichts massiver Kritik aus den Reihen der Abgeordneten ließ er den Vorschlag aber wieder fallen.

Statt dessen stimmte das Parlament über einen Alternativantrag seines Vorsitzenden Anatoli Lukjanow ab und beauftragte das Präsidium des Obersten Sowjets, nicht näher definierte Maßnahmen zur „Sicherung der Objektivität“ der sowjetischen Medien auszuarbeiten.

Gorbatschows Vorschlag zielte darauf ab, die Medien der Kontrolle des Obersten Sowjets zu unterstellen und das im vergangenen Jahr verabschiedete Mediengesetz, mit dem die Zensur abgeschafft worden war, zeitweilig außer Kraft zu setzen.

Anlaß zu der Kontroverse gab offenbar die jüngste Ausgabe der Wochenzeitung 'Moskowskije Nowosti‘ ('Moscow News‘), die Lukjanow den Abgeordneten als Beispiel für Mangel an Objektivität vorhielt. Diese Ausgabe der 'Moskowskije Nowosti‘ war mit Trauerrand erschienen. Die Militäraktion sowjetischer Soldaten in Vilnius war darin als Verbrechen und als erster Schritt auf dem Weg zur Diktatur charakterisiert worden.

taz: Michail Gorbatschow hat in der gestrigen Sitzung des Obersten Sowjets sowohl die demokratische 'Moskowskije Nowosti‘ als auch die 'Prawda‘ wegen deren Berichterstattung zu Litauen angegriffen, obwohl die 'Prawda‘ völlig der konservativen Parteilinie folgt. Wie ist das erklärbar? Wie weit ist die Polarisierung zwischen den Konservativen und den Demokraten im sowjetischen Pressewesen schon fortgeschritten?

Andrej Gurkow: Die Polarisierung war schon sehr weit fortgeschritten und hat nach den Ereignissen in Vilnius noch zugenommen. Daß Gorbatschow gegen 'Moskowskije Nowosti‘ vorgegangen ist, ist unmittelbar einsichtig. Meine Zeitung hat die Militäraktion in Vilnius unzweideutig verurteilt, ebenso die gesamte Politik der Zentrale in den baltischen Staaten. Der Angriff auf die 'Prawda‘ ist ein Täuschungsmanöver, das Ausgewogenheit suggerieren soll. Die 'Prawda‘ hat in den letzten Monaten im Übermaß bewiesen, daß sie auf der Seite der KPdSU-Führung steht. Ich würde sagen, die Pressefreiheit existiert bei uns — noch.

Wie schätzen sie das Kräfteverhältnis im Obersten Sowjet in der Frage der Pressefreiheit ein? Immerhin ist das Parlament dem Vorstoß Gorbatschows, diese Freiheit auszusetzen, nicht gefolgt.

Ich würde die Bedeutung des Obersten Sowjets nicht überschätzen. Er ist konservativ-kommunistisch geprägt. Auch ich bin erstaunt darüber, daß er diesmal von seiner Gewohnheit, alles zu billigen, was von Gorbatschow kommt, abgewichen ist. Aber dieses Parlament hat Gorbatschow so große Vollmachten erteilt, daß der Präsident auch ohne die förmliche Zustimmung zur Zensur genügend Möglichkeiten finden wird, auf die Pressefreiheit „einzuwirken“. Das Parlament hat seine entscheidenden Machtfunktionen bereits abgegeben.

Was hat man unter dem Beschluß des Obersten Sowjets von gestern zu verstehen, er wolle „geeignete Maßnahmen“ ergreifen, um die Objektivität der Presseberichterstattung durchzusetzen?

Er verheißt nichts Gutes.

Besteht die Gefahr, daß 'Moskowskije Nowosti‘ verboten wird?

Vorläufig nicht. Die Zensur im staatlichen Rundfunk und Fernsehen ist bereits durchgesetzt, und das sind ja die wichtigsten Massenmedien. Die Hauptnachrichtensendung „Wremja“, die noch vor wenigen Monaten um objektive Berichterstattung bemüht war, ist seit der Ernennung von Leonid Kratschow zum Chef des staatlichen Rundfunk- und Fernsehkomitees im Dezember vergangenen Jahres zu einem reinen Regierungssprachrohr verkommen. Kritisch-unabhängige Reporter und Kommentatoren dürfen praktisch nicht mehr vor die Kamera. Schwierig ist ein mildes Wort für unsere Situation.

Können die demokratischen Institutionen wie das Parlament der russichen Föderation oder die demokratischen Stadtsowjets die unabhängige Presse verteidigen?

Die Zentralmacht hat nicht nur Rundfunk und Fernsehen in der Hand, sondern auch die Gebäude. Denken Sie nur an den Versuch, die Agentur 'Interfax‘ lahmzulegen. Ihr gehören auch die meisten Druckereien. Man braucht nicht zu verbieten, es reicht, den Hahn abzudrehen. Die einzige Kraft, auf die die demokratische Presse zählen kann, sind die Republiken, als erste natürlich Rußland.

Kann Glasnost rückgängig gemacht werden?

Die Denkprozesse, die in den Köpfen der Menschen durch Glasnost ausgelöst worden sind, auf alle Fälle nicht. Telefoninterview

von Christian Semler

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