: Die Ankunft der Geiger
Das Musikleben Israels ist durch die Einwanderung der sowjetischen Juden, unter denen es viele Musiker gibt, durcheinandergeraten ■ Von Alain Lompech
In der Halle des Flughafens von Tel Aviv stapeln sich Koffer und Pakete: Fast jeden Tag kehren Tausende sowjetischer Juden ins Land ihrer Vorfahren zurück; sie haben mitgenommen, was sie ausführen durften. Über 6.000 Personen sind am ersten Januar-Wochenende angekommen, 200.000 in den letzten Monaten. Eine Million wird erwartet. Der israelische Staat entschloß sich, zur Unterbringung dieser Einwanderer für zwei, drei Jahre Hotels zu mieten, die von den Touristen — entmutigt durch die Intifada und die Golfkrise — verlassen sind.
Kyrillische Ladenschilder
Für viele Israelis, die ich auf dem französisch-israelischen Musikfestival, organisiert vom Louvre und dem israelischen Kammerorchester, getroffen habe, stellt die massenhafte Ankunft der sowjetischen Bürger einen wahren „Segen“ dar. Alle sozialen Schichten und Altersgruppen wandern aus, für Israel bedeuten sie neue Arbeitskräfte, neue Soldaten, um das Land zu verteidigen, neue Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte und Lehrer: eine kulturelle und intellektuelle Elite hofft, in der israelischen Gesellschaft ihren Platz zu finden.
Die Schnelligkeit, mit der die israelische Gesellschaft auf Veränderungen reagiert, beeindruckt den Reisenden immer wieder: Die Schilder der Läden tragen bereits kyrillische Buchstaben, das kyrillische Alphabet tritt hier zum lateinischen fürs Englische, Französische und Polnische (häufige Sprachen in Israel), zum Hebräischen und natürlich zum Arabischen, das in der Schule gelehrt wird.
Für gläubige Juden ist die Einwanderung eine Gewissensfrage, denn nach sowjetischem Gesetz ist ein Kind jüdisch, wenn ein Elternteil sich zum mosaischen Glauben bekennt, während die Schrift nur die Kinder anerkennt, die eine jüdische Mutter haben. In Zukunft wird es zahlreiche Prozesse geben, denn auch wenn der israelische Staat — immer noch — offiziell Glaubensfreiheit garantiert, so wird er doch stark von einer religiösen Hierarchie unter Druck gesetzt, die sich nach Meinung der meisten Israelis ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte.
Zwar kann ein Ingenieur, ein Wissenschaftler oder ein Arzt sehr schnell Arbeit finden und so der Gemeinschaft nützlich sein. Das massenhafte Eintreffen von Pianisten, Dirigenten, Geigern, Cellisten und Bratschisten droht jedoch, deren berufliche Integration zu erschweren.
Die Samuel-Rubin-Musikakademie an der Universität von Tel Aviv ähnelt einer amerikanischen Uni. Mitten in der Stadt bildet sie eine Art Dorf, dessen moderne Gebäude zwischen Rasenflächen mit Blumenbeeten stehen oder hinter Bäumen verborgen sind. Es ist ein richtiger Campus, auf dem Studenten kommen und gehen; verglichen mit den öden Pariser Universitäten hat er fast etwas Idyllisches.
Der Geiger Yair Kless ist zugleich Akademiedirektor und Vorsitzender des Fachbereichs für Saiteninstrumente. Ich sprach mit ihm nach seinem Kurs. „Wie viele sowjetische Musiker nach Israel ausgewandert sind? Schwer zu sagen, es wurden zwar Zahlen veröffentlicht, doch sie sind unzuverlässig, denn sie unterscheiden nicht zwischen Amateuren und Berufsmusikern. Für unsere Uni dagegen kann ich genaue Zahlen nennen. Im letzten Jahr hatten wir 230 Schüler. In diesem Jahr haben wir noch 110 dazu aufgenommen (ein Drittel davon spielt Saiteninstrumente), außerdem 18 Musiklehrer und weitere Pianisten.
„Wir können einfach nicht alle Pianisten beschäftigen“
Ich habe gerade ein Gesuch ans Ministerium und an die Universitätsverwaltung geschickt, da im nächsten Jahr 500 Schüler auf uns zukommen. Das bedeutet eine Steigerung von über hundert Prozent in zwei akademischen Jahren. Wo soll das hinführen? Allerdings nimmt die Rubin- Akademie nur fortgeschrittene Schüler auf, die bereits das Abitur haben. Es müßte möglich sein, die neuen Einschreibungen über die einzelnen Schulen und Konservatorien laufen zu lassen.“
„Fast täglich kommen neue Musiker an, aber sie haben nicht alle die erforderliche Qualifikation, manche werden früher oder später den Beruf wechseln müssen. Wir können einfach nicht alle Pianisten beschäftigen, die hier ankommen. Sie werden natürlich auch das Musikpublikum vergrößern, das dadurch jedenfalls — auch in qualitativer Hinsicht — nur gewinnen kann. Denn die neuen Einwanderer haben oft eine gründliche musikalische Bildung; sie spielen selbst Instrumente, wie in früheren Zeiten. Gar nicht selten spielt in einer Familie der Vater Geige, die Mutter Klavier, die Kinder spielen Geige, Bratsche und Violoncello, so daß sie ihre Abende mit Quartetten verbringen. Die besten unter ihnen werden kleine Orchester bilden, die von der Musik leben können, denn die Einwanderer schaffen auch ein neues Publikum. Die Musik in Israel kann davon nur profitieren.“
„Das dringendste Problem besteht darin, für die begabten Einwanderer Instrumente zu finden. Der sowjetische Staat verbietet es, die Instrumente mitzunehmen, außer wenn sie neu sind und es die Rechnung eines noch lebenden Geigenbauers gibt. Natürlich ist verständlich, daß die Sowjetunion wertvolle Instrumente als nationales Erbe betrachtet, doch da sind auch viele Instrumente minderer Qualität, die seit Generationen den Familien gehören und einmal rechtmäßig erworben wurden. Es ist erbärmlich, sie zu konfiszieren. Fragen Sie dazu mal den jungen Geiger, der auf seine Stunde wartet, er wird es Ihnen erzählen.“
Vadim Tschibulewsky ist ein kräftiger junger Mann von 23 Jahren, die Augen so schwarz wie der Bart. Vor ein paar Wochen ist er in Israel eingetroffen und hat sich an der Universität vorgestellt. Yair Klees hat ihn in die zweite Klasse aufgenommen, nachdem er ihn gehört hatte. Seine Geige blieb in der UdSSR: „Es kam überhaupt nicht in Frage, sie mitzunehmen, nicht einmal den Bogen. Es war nicht einmal ein wertvolles Instrument. Yana, meine Frau, ist Harfinistin. Sie war Schülerin bei Frau Dulova am Moskauer Konservatorium, einer wunderbaren Musikerin. Auch sie durfte nicht mit ihrer Harfe auswandern, einem Instrument, dessen Wert niemals mit dem einer Geige oder eines Violoncellos verglichen werden kann. Die Sowjets lassen nicht mit sich reden. Die Universität mußte mir also eine Geige leihen, mit der ich die großen internationalen Wettbewerbe und die Konzerte vorbereiten kann, die ich mit dem israelischen Kammerorchester unter Schlomo Mintz gebe.“
Da ständig neue Einwanderer kommen, kann sich die Situation auch für diejenigen verschlechtern, die bereits eine Stelle gefunden haben. Das meint jedenfalls Amnon Weinstein, berühmtester Geigenbauer Israels, den ich in seiner Werkstatt in Tel Aviv besucht habe. Den Tip bekam ich von Musikern: Kaum haben sowjetische Musiker den Flughafen verlassen, rennen sie ihm die Tür ein.
Seine Werkstatt ist eine herrliche Rumpelkammer. Die Wände sind bedeckt mit Fotos der größten Geiger von gestern und heute, mit Widmungen und Diplomen, und überall finden sich Geigen, Bratschen, Violoncelli, geordnet in Vitrinen, aufgehängt an Wandleisten, Hobelbänken, Werkzeugen, Behältern, Girlanden von Stegen... Hier throhnt oder vielmehr bewegt sich Amnon Weinstein. Dieser Mann kommt nicht zur Ruhe, ständig empfängt er neue Kunden, repariert, stellt etwas ein, feilt und organisiert. Am späten Vormittag bin ich in seine Werkstatt gekommen, um sie erst am Spätnachmittag zu verlassen. So blieb gerade genug Zeit, die Fachkenntnis dieses Originals von einem Menschen schätzen zu lernen, der nebenbei fast im Handumdrehen die Geige von Christophe Giovaninetti und ein Violoncello eines Musikers aus dem Orchester von Schlomo Mintz reparierte.
Giovaninetti, der erste Geiger des Ysage-Quartetts, beklagt sich, daß sein Instrument nicht mehr klingt, ein bißchen dumpf ist und nicht vibriert, seitdem es ein französischer Geigenbauer in den Händen hatte. Als Weinstein das Instrument vor ein paar Tagen hörte, fand er sofort heraus, was nicht stimmte. Ein Termin wurde vereinbart. Weinstein wechselt die zu große Seele und den Steg, stellt zweimal etwas nach. Giovaninetti ist sichtlich unruhig, denn es ist gefährlich, die Seele einer Geige zu berühren. Doch kaum hat er sie wieder in der Hand, strahlt er über das ganze Gesicht. Für 1.500 Francs (500 Mark) ist seine Geige jetzt ein anderes Instrument geworden, ihr musikalischer Wert hat sich verzehnfacht.
Während der Arbeit kommen zahllose Anrufe und Besuche. Amnon Weinstein spricht offen: „Die Instrumente bleiben da, das ist natürlich traurig, wenn Sie aber erst sehen würden, in welchem Zustand diejenigen sind, die hier ankommen... Geigenbau wird in der Sowjetunion so schlecht gelehrt, daß viele Geigen verhunzt sind. Ich habe welche gesehen, die waren mit Zement oder Asphalt repariert, an mehreren Stellen geborsten. Unspielbar, nicht mehr zu reparieren.
Geigen mit Zement
In solchen Fällen leihe ich den Leuten Instrumente aus meiner persönlichen Sammlung, aber das wird nicht reichen. Man muß Geld finden, um neue Instrumente zu kaufen, und man muß Gelder für die Ausbildung der eingewanderten Geigenbauer bereitstellen (Weinstein spricht auch von einem großen Benefizkonzert, das im Palais des congrès von Cannes stattfinden soll, das Datum steht noch nicht fest/Anm. Lompech). Sie können zwar Geigen bauen, na ja, etwas, was wie eine Geige aussieht, aber sind durchaus nicht in der Lage, einen Steg oder eine Seele zuzuschneiden. Alles muß neu gelernt werden.“ „Sie können sich kaum vorstellen, welche Chance sich unserem Lande bietet, wenn es diese Musiker aufnehmen kann, die besten werden unser Musikleben beflügeln. Es wundert Sie sicher, wenn ich von der Zukunft spreche, daß ich Projekte mache, aber wir leben nun schon so lange mit dem Krieg, daß wir zu allem bereit sind. Saddam Hussein drohte mit Raketen auf Tel Aviv, mit Giftgas... Er soll sich hüten.“
Copyright: 'Le Monde‘, 10.1.1991. Aus dem Französischen von Marianne Karbe
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