Die Bedrohung Israels ist unterschätzt worden

■ Ulrich Albrecht, Friedensforscher an der FU Berlin, zum Kriegsverlauf und zur Gefahr zerbombter AKWs INTERVIEW

taz: Wir haben Sie jetzt zweimal nach Ihren Einschätzungen zum Kriegsverlauf gefragt. Nehmen Sie davon irgend etwas zurück?

Ulrich Albrecht: Nein, im Grunde nicht. Allenfalls dies: Obwohl es hieß, die „schweren chemischen Sprengköpfe“ hätten bislang einen Chemiewaffenangriff mit sowjetischen „Scuds“ verhindert, belehren mich Anrufe von taz-Lesern aus der Bundeswehr, daß doch Sprengköpfe mit geringerer Kampfstoffzuladung zugunsten einer Vergrößerung der Reichweite hätten gestartet werden können. Die Bedrohung Israels durch irakische Waffen ist offenbar unterschätzt worden. Zum einen in der Frage der Zahl der Geschosse: Das Londoner Institut für strategische Studien nennt — Geheimdienstinformationen nutzend — 66 Startvorrichtungen im Irak, davon 36 für Scuds. Inzwischen ist neben anderen Typen allein für Scuds von 400 Geschossen die Rede. Fachdiensten zufolge gibt es Nachbauten dieser Rakete aus Ägypten, Nordkorea und dem Irak selbst. Zum anderen hat die alliierte Aufklärung offenbar Schwierigkeiten, selbst ortsfeste Starteinrichtungen aufzuspüren.

Der Oberbefehlshaber der US-Truppen, General Schwarzkopf, meldete, die irakischen Atomanlagen stellten keine Gefahr dar. Kann man überhaupt ein AKW treffen, ohne einen GAU auszulösen?

Die irakischen Anlagen haben sicher keinen Berstschutz, das wurde schon 1981 von den Israelis bei ihrem Angriff auf die Anlage Osirak festgestellt. Mit „intelligenten Waffen“, wie die präzisionsgesteuerten Marschflugkörper genannt werden, kann man den Reaktorbetrieb durch die Zerstörung von Hilfsanlagen wie der Kühlung oder der Energieversorgung lahmlegen. So kann man Schwarzkopfs Formel interpretieren, die Anlagen seien „ausgeschaltet“...

Die von den Alliierten angegebenen Zahlen über eigene Verluste und die von Irak bekanntgegebenen Zahlen über getötete Zivilisten sind sehr niedrig. Wie beurteilen Sie das?

Wir sind hier die Objekte einer strikten Nachrichtenpolitik. Negative Zahlen werden nicht freigegeben. Eine so große Kriegsmaschine, wie sie die Alliierten am Golf zusammengezogen haben, hat allein schon aufgrund von Unfällen täglich Verluste. Die Medienkonsumenten müssen sich angewöhnen, bei allen offiziellen Verlautbarungen zwischen und hinter den Zeilen zu lesen. Ein aktuelles Beispiel: Die nunmehr genannte Zahl von 400 Scud-Raketen könnte zum Beispiel hochgeputscht sein, um das Anhalten der Luftoffensive zu rechtfertigen. Die geringe Zahl der bekanntgegebenen Zivilopfer hat auch den Unsicherheitsfaktor der Zensur, diesmal von irakischer Seite. Es ist wohl tatsächlich davon auszugehen, daß die zivilen Opfer bislang relativ begrenzt geblieben sind. Der Oberbefehlshaber der Royal Air Force hat erneut betont, daß nur militärische Ziele angegriffen werden — dazu gehört dann anscheinend auch ein Präsidentenpalast und ein Verteidigungsministerium. Der Begriff „Flächenbombardement“ heißt nicht automatisch eine massive Betroffenheit ziviler Ziele. Nach amerikanischen Angaben kommt es allerdings zu einer Quote von 20 Prozent Fehlwürfen. Interview: Georgia Tornow