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Flucht durch den Schnee?

■ Gespräche in Spandaus »kurdischem Dorf«: Frauen sind krank vor Angst um Angehörige am Golf/ Keine Schutzmaßnahmen für die dortige Bevölkerung

Spandau. Kurdistan ist in dieser Jahreszeit mit Schnee bedeckt. Ein natürlicher Umstand, der die Sorgen der Frauen im Spandauer Hinbûn- Laden in der Jagowstraße in diesem Jahr noch vergrößert. »Schnee — wie soll man da bloß mit kleinen Kindern über die Berge kommen? Das geht überhaupt nicht«, sagt eine von ihnen. Die Gedanken und Gespräche der Kurdinnen im Nachbarschaftstreffpunkt kreisen fast ausschließlich um das Schicksal ihrer Eltern, Geschwister und anderer Angehöriger zu Hause. Besonders schlimm betroffen sind die Familien der Frauen, die im irakisch besetzten Teil Kurdistans leben. An Flucht ist für viele kaum zu denken. Hier in der Spandauer Neustadt — mit rund 3.500 Kurden innerhalb weniger Straßenzüge dem wohl größten »kurdischen Dorf« Berlins, regieren Ohnmacht und Angst.

»Die Frauen kommen mit dicken, verschwollenen Augen in den Laden. Viele sitzen stundenlang vor dem Fernseher, weinen und sind ständig in ganz schlimmer Stimmung«, so beschreibt Aso Agace, die kurdische Leiterin des kleinen internationalen Frauenhauses, die Stimmung ihrer Besucherinnen. Ganz gleich, ob die Frauen über einen türkischen, syrischen, irakischen oder iranischen Paß verfügen, die Angst ist übermächtig. — Aza (26) ist bleich, fahrig und hat rotgeweinte Augen. Sie verfolgt die Fernsehberichterstattung fast rund um die Uhr auf allen Kanälen. Dabei erfärt sie viel über Waffen, Politik und Militärstrategien und fast nichts über die Menschen. Die Mutter von drei Kindern lebt von ihrem Mann getrennt in der Spandauer Neustadt. Ihre Heimat ist die kurdische Kleinstadt Sexan im Norden des Iraks. Dort leben ihre Mutter und ihre sieben verheirateten Schwestern mit ihren Familien. Auf kurdisch und deutsch erzählt sie, daß sie seit Tagen nicht mehr schlafen kann: »Ich habe immer viel, viel Angst.« Telefonverbindungen gibt es nicht mehr. Auf dem Postamt hat man sofort abgewinkt, als Aza versuchen wollte, nach Hause zu telefonieren. Wenn überhaupt, dann könne man allenfalls Bagdad erreichen. Aza: »Ich weiß ja nicht einmal, ob sie etwas zu essen haben.«

Ihre Nachbarin am Hinbûn-Tisch kommt aus Syrien und hat vor einer halben Stunde noch mit ihrer Schwägerin dort telefoniert. Die Verbindung war gut, und sie ist nun zumindest etwas beruhigter. Ihre beiden Brüder sind noch bei der Familie, der Staat zieht derzeit Reservisten bis zum 28. Lebensjahr ein. Die Schwägerin habe auch erzählt, die Krankenhäuser seien voll. Vermutlich mit Flüchtlingen aus dem Irak, aber Genaueres wisse man nicht.

Aso Agace, die Hinbûn-Leiterin, berichtete aus ihrer Heimatstadt Diyarbakir. In der Großstadt im türkischen Teil Kurdistans herrscht Fluchtstimmung. Über Telefon hat sie erfahren, daß es Schulklassen gibt, in die statt bislang 35 Kinder nur noch drei kommen. Wer Geld hat, setzt sich — oder wenigstens die Kinder — in Richtung Westen ab. Oder versucht es wenigstens.

Jemand berichtete von einem Gebirgsdorf unweit der Stationierungsorte deutscher Soldaten. 35 Familien leben dort, fünf sind mittlerweile geschlossen weggezogen. Die anderen seien so bettelarm, daß sie nicht die Mittel für die kleinste Reise hätten, geschweige denn für Isolierband und andere Materialien, mit denen man sich angeblich gegen Giftgas schützen könnte.

Helfen können auch die Menschen in der Spandauer Neustadt momentan nicht. Geld kann man nicht schicken, Pakete schon gar nicht. Ja, sagt die kurdische Frau aus Syrien, das erfülle einen schon mit Wut und Neid, wenn man sehe, wie in Israel und anderswo Gasmasken und andere Schutzvorrichtungen vorbereitet würden. In Kurdistan, gleich in welchem Teil, erhalte die Bevölkerung keine Gasmasken — noch nicht einmal Informationen. Viele telefonieren bei Verwandten in Europa herum in der Hoffnung, in anderen europäischen Ländern nähmen TV- Sender das Schicksal der Zivilbevölkerung ernster als dies ARD und ZDF tun. Thomas Kuppinger

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