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Mythos Varité

■ Geschichte eines Genres im Haus am Lützowplatz

Varieté, was ist das? Ist doch klar! Das sind Go-Go-Girls und Messerwerfer, Zauberkünstler und Jongleure, laszive Sängerinnen und schwülstige Conférenciers, bunt beleuchtete Bühnen in rauchigen Großstadthöhlen mit Tischtelefon und Separée. Das ist Liza Minelli und ihr »Life is a cabaret!« ... Moment! Cabaret? Also doch kein Varieté? Und was ist mit den Jongleuren und Messerwerfern? Die gibt's doch auch im Zirkus. Also gut, die dann eben auch nicht. Was aber ist dann Varieté?

Der Klärung dieser im Moment sicher nicht weltbewegenden Frage hat sich die Galerie Haus am Lützowplatz angenommen. Nichts weniger als die Geschichte des Berliner und Deutschen Varietés will man zeigen. In Bildern. Doch die bleibt — die hier ausgestellten Sammlungen von Jule Hammer und dem Märkischen Museum in Ehren — kläglich auf der Strecke. Einzig und allein anhand von Veranstaltungsplänen und Plakaten, zeitlich mehr schlecht als recht geordnet, wird versucht, dem Besucher Entstehung, Höhepunkt und Niedergang des deutschen Varietés vor Augen zu führen. Begleitet wird das Ganze von einem knappen Abriß der Varietégeschichte — einzusehen am Verkaufstisch der Galerie, damit man nicht ganz vergißt, worum es eigentlich geht. Ansonsten bleibt der Betrachter jedoch völlig auf seine eigene Kombinationsgabe angewiesen.

So läßt sich erahnen, daß bis Ende des letzten Jahrhunderts in den Varietés jahrmarktsmäßige Sensationen vorherrschten. Mit Tierdressuren, Zauberei und Muskelprotzen wurde die Kundschaft geködert. Besondere Attraktion: die Zurschaustellung menschlicher Abnormalitäten. Daß diese jedoch aufgrund der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die Behinderten eine Mindestrente zusicherte, in den 80er Jahren stark zurückging, wird dem Besucher, wie auch jeder andere gesellschaftliche Zusammenhang, vorenthalten.

Jugendstilplakate von John Vrieslander, die vom Auftritt barbusiger Trapezkünstlerinnen künden oder auf denen hochgestreckte Frauenbeine und gelüpfte Röcke den Cancan versprechen, lassen darauf schließen, daß um die Jahrhundertwende Akrobatik, Tanz- und Musikveranstaltungen das Varieté beherrschten. Nur am Rande wird darauf hingewiesen, daß bereits 1895 im Varieté des Berliner Wintergartens mit einer Sensation aufgewartet wurde, die schon kurze Zeit später dem Varieté erbarmungslos den Rang ablaufen sollte: mit der ersten Filmvorführung in Deutschland.

Im Zuge dieser technischen Entwicklung wurden die meisten Varietés in Kinos verwandelt: allen voran das Apollo-Theater in der Berliner Friedrichstraße. In der Ausstellung ist das jedoch nicht zu sehen, ebensowenig wie die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf das Programm. Immer wird dem Besucher vorgegaukelt, die Entwicklung des Varietés sei kontinuierlich und unerschütterlich. Daß aber selbst der größte Aderlaß unter den deutschen Künstlern, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, in der Ausstellung nicht die geringste Spur eines Einschnittes verrät, das ist nicht mehr nur ärgerlich, das ist dreist. Für wie dumm wird man eigentlich gehalten? Lediglich in einer Randnotiz der viel zu dürftigen Chronologie wird eine »Arisierung« ab 1933 durch die Reichskulturkammer zugestanden. Nichts über das Schicksal der emigrierten oder verhafteten Künstler. Auch wenn es am Fehlen von Originalmaterial lag, für den Anspruch, Geschichte zu dokumentieren ist eine Randnotiz zu diesem Thema zu wenig!

Glaubt man der Chronologie der Ausstellung, wo wurde der unaufhaltsame Boom des Varietés lediglich in den ersten Nachkriegsjahren gebremst, um anschließend wieder bis zum heutigen Tag ungehindert anzuhalten. Nichts vom gescheiterten Wiederbelebungsversuch im Quartier.

The show must go on: ein Zweckoptimismus, der unbeirrbaren Varietéliebhabern vielleicht noch zu verzeihen ist, Galeriebesucher allerdings ins Leere laufen läßt. Wer sich trotzdem ärgern will, kann dies bis zum 17.2. tun, Di-So 11-18 Uhr in der Lützowstr. 9, 1-30. Eitritt ist frei. Andreas B. Hewel

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