: Hagga Samira und ihre beiden verlorenen Töchter
Fast jede ägyptische Familie hat Angehörige, die am Golf leben, viele davon auf zwei Frontseiten/ Klagen über Mubaraks einsame Entscheidungen ■ Aus Kairo Karim El-Gawhary
„Es ist gerade Zeit zum Magreb, dem Abendgebet, und ich will Allah bitten, das Leben und die Gesundheit meiner Tochter zu erhalten“, entschuldigt sich die Ägypterin Hagga Samira, als sie mit dem Gebetsteppich unter dem Arm im nächsten Zimmer in ihrer kleinen Wohnung im Zentrum Kairos verschwindet. Als sie aus dem Nebenraum zurückkehrt, wischt sie sich die Tränen unter ihrer dicken schwarzen Brille weg und schiebt ihr weißes Haar wieder unter ihr Kopftuch.
Die alte Frau ist in den letzten Monaten hart vom Schicksal getroffen worden. Zwei ihrer Töchter, die vor einigen Jahren von Ägypten an den Golf gezogen sind, leben im heutigen Kriegsgebiet. Zu allem Überfluß auch noch auf verschiedenen Seiten der Kriegsfront. Sainit, ihre ältere Tochter, ist seit fünf Jahren verheiratet und wohnt seitdem mit ihrem Ehemann in einer irakischen Kleinstadt in der Nähe Bagdads. Die jüngere Tochter Rawda lebt ebenfalls seit fünf Jahren am Golf, allerdings auf der anderen Seite der Front, in der saudischen Hauptstadt Riad. Auch sie ist verheiratet und hat vier Kinder. Stolz deutet die alte Frau auf die Wand, an der die Fotos ihrer Kinder hängen. Sie sind etwas alt, entschuldigt sie sich, leider besitze sie keine Bilder aus den letzten Jahren.
Hagga Samira hat die ganze Entwicklung am Golf bereits seit Monaten mit Skepsis beobachtet. Noch im September hatte sie versucht, ihre im Irak lebende Tochter zur Rückkehr zu überreden. „Sie wollte kommen, aber ihr ägyptischer Ehemann lebt seit 15 Jahren im Irak. Das ist seine neue Heimat, und deshalb wollte er auf keinen Fall zurückkehren. Jetzt ist es zu spät“, berichtet Hagga Samira, und das runzlige Gesicht der um die 70 Jahre alten Frau legt sich noch mehr in Falten. Seit der Krieg ausgebrochen ist, hat sie keine Nachrichten von ihrer Tochter im Irak. „Als ich die ersten Bilder vom Krieg im Fernsehen gesehen habe, bin ich zusammengebrochen“, erinnert sie sich. „Wenn ich heute Nachrichten höre, dann weiß ich überhaupt nicht mehr, wem ich glauben soll, den Amerikanern oder Saddam Hussein? Nur Allah kennt die Wahrheit“, sagt sie verdrossen, während sie ein paar geblümte Teetassen mit verschnörkelt vergoldeten Henkeln aus ihrer sonst ärmlichen Küche holt. Doch die Hoffnung, ihre Töchter bald wiederzusehen, hat sie nicht verloren. Dann feiert sie das größte Fest, das Kairo je gesehen hat, verspricht sie und beginnt wieder zu lächeln.
Hagga Samira ist kein Einzelfall. Fast jeder in Ägypten hat Verwandte oder Bekannte, die noch immer in der Golfregion leben, weil sie es nicht mehr geschafft haben, rechtzeitig nach Hause zu kommen oder einfach nur, weil sie nicht ihre gesamte Existenz aufgeben und sich auf eine Rückkehr ins Ungewisse einlassen wollten. Viele Ägypter waren in den letzten Jahren an den Golf gezogen, um dort ihr Glück zu suchen. Eine hohe Arbeitslosigkeit, Mangel an bebaubarem Boden und minimale Löhne in Ägypten hatten gerade frisch graduierte Akademiker und Bauern in die reichen Golfstaaten gelockt. Besonders junge Männer waren es, die versuchten, auf diese Weise ihre Träume zu erfüllen und genug Geld zu sparen, um heiraten zu können und ein kleines Geschäft zu eröffnen. Viele von ihnen kamen nach einigen Jahren zurück, heirateten in Ägypten und kehrten mit ihren Frauen wieder an den Golf zurück, wo sie ein neues Zuhause gefunden hatten. So verschlug es auch die Töchter Hagga Samiras an den Golf. Mit Beginn der Krise kamen viele ägyptische Familien in eine prekäre Situation. Standen doch plötzlich Ägypter an verschiedenen Fronten.
Von einem besonders krassen Fall weiß ein Journalist der ägyptischen linken Wochenzeitschrift 'Al-Ahali‘ zu erzählen. Eine Familie im Nildelta traf bei Ausbruch des Krieges gleich ein dreifacher Schlag. Einer ihrer Söhne arbeitet als Automechaniker in Riad, ein zweiter als Hotelangestellter in Bagdad und der dritte wartet in den Reihen der ägyptischen Armee im Schützengraben in Saudi- Arabien auf seinen Einsatz im Irak. „Jeder Schuß, der am Golf abgefeuert wird, ist ein Stich im Herzen der Familie, egal in welcher Richtung er abgefeuert wird“, beschreibt der Journalist die Lage der Familie. Er hatte den pensionierten Vater und dessen Tochter vor wenigen Tagen aus Zufall getroffen. Nashid, die Schwester der drei verlorenen Söhne, schiebt auch der ägyptischen Regierung einen Teil der Verantwortung für die mißliche Lage der Familie zu. „Präsident Mubarak hätte erst die zu Tausenden im Irak lebenden Ägypter zurückholen sollen, bevor er unsere Truppen an den Golf schickt. Der amerikanische Präsident hat schließlich auch erst die westlichen Geiseln herausgeholt, bevor er losgeschlagen hat“, kommentiert sie kritisch. Außerdem hätte Mubarak diese voreilige Entscheidung völlig allein verfügt, während Bush immerhin auch den Kongreß um seine Meinung gefragt hätte.
Damit faßte sie kurz und prägnant eines der Hauptprobleme aller am Konflikt direkt beteiligten arabischen Regime zusammen: der Mangel an Volksbeteiligung bei allen wichtigen Entscheidungen. Mubarak selbst dokumentierte letzte Woche in seiner als historisch bezeichneten Rede diese Tatsache: „Die Anwesenheit unserer Truppen an der Kriegsfront ist eine Pflicht, und das Volk steht in einer Reihe dazu“, führte er vor Ägyptens Parlamentariern aus, Abgeordnete, die nie über die Entsendung von Truppen an den Golf zu entscheiden hatten.
Hagga Samira jedenfalls ist gegen den Krieg. „Das sind alles Verrückte“, sagt sie. „Die amerikanischen Soldaten am Golf haben doch auch Eltern. Warum unternehmen die nichts gegen den Krieg?“, fragt sie und gießt kopfschüttelnd Tee in ihre verschnörkelten Goldtassen.
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