: Gorbatschow — „Shooting star“!
Mit eiserner Hand gegen das Chaos/ Der Präsident hält den Erhalt der UdSSR für seine letzte Chance ■ Aus Moskau K.-H. Donath
„Die letzten Aktionen weisen in ihrer Häufung darauf hin, daß er seinen gesunden Menschenverstand verliert — und das ist gefährlich“, meinte Boris Jelzin, Chef der Russischen Föderation vor den Kameras einer amerikanischen Fernsehstation von seinem Kollegen im Kreml. „Wie kann es möglich sein, in der jetzigen Situation Truppen gegen Zivilisten einzusetzen? Nicht nur unser Land wird sich von ihm abkehren, auch die ganze Welt.“ Michail Gorbatschow — so unerwartet er aus dem Orkus der Partei an die Spitze gelangte und die Welt in Erstaunen versetzte, so gnadenlos demontiert er jetzt sich und das, was die Welt mit seinem Namen verband: Glasnost und Perestroika. Seit Wochen gehören diese überstrapazierten Formeln nicht mehr in sein aktives Vokabular. „Perestroika“? so Jelzin, „ich glaube ihre Zeit ist vorbei.“
In seiner Funktion als Vorsitzender des Obersten Sowjet der RSFSR hat Jelzin versucht, die verheerenden Entscheidungen Gorbatschows der letzten Wochen zu konterkarieren. Vor dem Eingriff der Spezialeinheiten des Innenministeriums im Baltikum schloß er einen Vertrag mit Estland. Dann folgte eine Vereinbarung mit Lettland und Litauen. Beide Vertragsseiten erkannten darin einander als unabhängige Subjekte des Völkerrechts an. Nach den Schüssen in Vilnius richtete er einen Appell an die in den Ostseerepubliken stationierten Soldaten, keine Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten anzuwenden. Zuvor war ein Vertrag mit den drei größten Republiken, der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan ausgehandelt worden, der von horizontalen Strukturen ausgeht und vorbildlich sein könnte für eine zukünftige „kleinrussische“ Lösung. Ohne Zweifel, Jelzin hat die Flucht nach vorne angetreten und wider den Stachel der Zentralmacht gelöckt. Doch das Kalkül, das dahintersteckt, nährt sich nicht aus der Gewißheit letztlicher Überlegenheit der Russischen Föderation.
Die Salven von Vilnius galten auch der Russischen Föderation. So hat Jelzin sie auch begriffen. Als Konsequenz forderte er die Aufstellung einer eigenen Armee und eines eigenen Sicherheitsdienstes. Doch auf der um eine Woche vorgezogenen Krisensitzung des russischen Obersten Sowjet stand diese Forderung dann nicht mehr auf der Tagesordnung. Jelzin gelang es auch nicht, im eigenen Parlament eine qualifizierte Mehrheit für seine Resolution zu finden, die das Vorgehen in Vilnius und Riga scharf verurteilt. Das ist eine Schlappe, die dem Zentrum Auftrieb geben mag.
Bisher hatte es den Anschein, als würden beide Seiten auf Zeit spielen. Zwischendurch eröffnete das Zentrum allerdings Scharmützel, die sich in einigem auffallend gleichen: die Geldreform und die Verordnung des Verteidigungs- und Innenministeriums, ab dem 1.Februar die Armee der Miliz in den großen Städten Rußlands zur Seite zu stellen. Nach außenhin notdürftig als eine populistische Maßnahme kaschiert, die dem Interesse des verunsicherten Bürgers an Law and order dient, zielen beide auf die Souveränitätsbestrebungen der RSFSR ab. Zum einen erschwert die Geldreform die Privatisierungsabsichten. Viel schwerer wiegen aber die verursachte soziale Unrast und Verunsicherung. Spitzt sich die Situation zu, fiele dem Zentrum die Begründung in den Schoß, warum es in den Republiken eingreifen müsse.
Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz der Armee zu Ordnungszwecken. Auch dies ist ein Eingriff in den Kompetenzbereich untergeordneter Organe, dessen verfassungsrechtliche Dimension noch gar nicht geklärt ist. Die Präsenz der Armee, darüber sind sich viele einig, wird nicht die gestiegene Kriminalitätsrate senken. Im Gegenteil, sie wird eher Zwischenfälle provozieren, die eine Rechtfertigung zum Eingreifen liefern. Anders als in den nichtrussischen Republiken bedarf es in Rußland immerhin noch eines Vorwands.
Der Ausgang des Kräftemessens bleibt offen. Verfügt das Zentrum über ausreichend Truppen, die sich flächendeckend in ganz Rußland einsetzen ließen? Und wie stehen die Militärs dazu? Werden sie dem Präsidenten die Treue halten? Ihm, der vorgibt, von ihren Aktionen nichts gewußt zu haben. Wird er nicht doch wieder, wenn es opportun scheint, sie zu Sündenböcken stempeln? Im Gegensatz zum Zauderer Gorbatschow zeichnet sich Jelzin zumindest durch Entschlossenheit und Mut aus. Das mögen die Militärs. So einem traut man eher zu, Ordnung schaffen zu können. Darum geht es ihnen ja schließlich.
Einem Erfolg der radikalen Kräfte steht indes entgegen, daß ihnen die soziale Basis fehlt und das Desinteresse an Politik rapide zunimmt. Außer den charismatischen Führungsfiguren der Opposition haben sich die demokratischen Politiker seit den Wahlen im Frühjahr letzten Jahres keinen Vertrauenszuschuß erarbeiten können. Zum Teil liegt das an den alten Machtstrukturen, die die neuen Organe immer noch blockieren, doch auch an der eigenen Inkompetenz und Unentschlossenheit. So werden Stimmen aus dem eigenen Lager laut, die einen geordneten Rückzug fordern. Die Opposition solle sich zurückziehen, um sich als Alternative nicht auf ewig zu verschleißen.
Dem muß nicht unbedingt eine autoritäre Herrschaft folgen. Die Überlebensdauer einer Militärdiktatur wäre ohnehin beschränkt, da sie keine Lösungswege anzubieten hätte, der Malaise Herr zu werden. Die bei weitem freundlichste Entwicklungsvariante wäre, wenn die Steuerungsfunktionen an den Föderationsrat übergingen. Seine Bedeutung hat sich seit den Schüssen von Vilnius gewandelt. Seine Mitglieder verurteilten das gewaltsame Vorgehen und entsandten eine Untersuchungskommission ins Baltikum. Doch bevor der Föderationsrat, eine exekutive Funktion übernehmen könnte, müßte er sich erst von seinen institutionellen Fesseln befreien. Bisher gehören ihm neben den fünfzehn gewählten Präsidenten der Republiken auch Gorbatschow und die Vorsitzenden der Autonomen Republiken (ASSRs) an. Deren Zahl beträgt allein zwanzig. Dieses Modell stammt aus der Stalinzeit. Stalin hatte die kleinen ASSRs aufgepäppelt, um die Republiken im Zaum zu halten. Besonders zu leiden hat unter dieser Regelung die RSFSR. Auf ihrem Territorium befinden sich allein sechzehn Autonome Republiken. Bevor der Föderationsrat an eine tragende Rolle denkt, müßte er erst seine Strukturen auf neue Fundamente stellen.
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