: Da wurde es erst richtig schön
■ »Verdammt« — Irrentheater aus Moringen im Gemeindesaal der Treptower Bekenntniskirche
Fünfzehn Patienten des gerichtspsychiatrischen Krankenhauses Moringen spielen ihr Stück Verdammt!. Nach der Uraufführung im Sommer letzten Jahres waren sich die Rezensenten der 'Nordheimer Neuesten Nachrichten‘ (NNN) und des 'Göttinger Tagesblatts‘ (GT) einig: diese Premiere ging allen Beteiligten unter die Haut. Fast ein bißchen neidisch beobachten beide die »Freude, Erleichterung und Zufriedenheit« (GT) der nach dem Applaus »gelöst und fröhlich« (NNN) von der Bühne kletternden Akteure, mußten sie selbst sich doch zum Publikum rechnen, das »weniger gutgelaunt« (NNN) die Spielstätte verlassen habe und »sicherlich noch einige Zeit über das schwerverdauliche Stück nachdenken werde« (GT).
Betroffenheit, lernt man daraus, ist eben mit nichts weniger zu vereinen als mit guter Laune. An diesem Mißverständnis ist der Regisseur der Performance, Martin Böing, nicht unschuldig. Der wünschte den Zuschauern nach der Premiere noch »einen schönen Abend, wenn dieses noch möglich ist«. Das ist eine Gemeinheit, nicht nur gegenüber dem Publikum, sondern auch gegenüber den Moringer Darstellern, die mit Sicherheit alles andere im Sinn hatten, als ihren Zuschauern den weiteren Abend zu vermiesen. Es sei also an dieser Stelle dem Regisseur gesagt: für die Zuschauer des Berliner Gastspiels wurde dank der Moringer der Abend erst richtig schön. Zum Glück empfing das Publikum im Gemeindesaal der Bekenntnis-Kirche nicht die Botschaft des abwesenden Regisseurs, sondern die der höchst präsenten Schauspieler. Es lachte bisweilen herzlich. Es lachte über die komischen Szenen, in die der triste, monotone Alltag in einer psychiatrischen Klinik hier umgesetzt war. Es lachte über die lakonische Veräppelung eines Arztes, der nach dem Ableben eines Patienten dessen vielfache Aktivitäten in der hauseigenen Zeitungsredaktion, Literatur- und Theatergruppe aufzählt und schließlich den schönen Satz spricht: »Und dennoch — Herr Schmidt ist tot.« Die Komik dieses Abends entsprang der Fähigkeit der Darsteller, über ihre eigene Lage hinauszuweisen, das eigene Elend zur Metapher des allgemeinen Elends zu machen. Man lachte, weil man sich selbst im Schauspiel der Moringer Patienten wiedererkennen konnte.
Von geradezu valentischem Witz war schließlich eine Szene, in der ein Erste-Hilfe-Sanitäter am lebenden Objekt die stabile Seitenlage vorführen möchte und dabei immer wieder von der Tücke dieses Objekts überrascht wird. Der Verunfallte wehrt sich nämlich gegen die Zurechtbiegung und schnellt nach jedem Versuch in die Ausgangslage zurück. Zwischen solchen pointierten »Nummern« erzählen die Patienten Erlebnisse aus der Zeit, in der sie noch auf freiem Fuße waren. Einer von ihnen ist früher zur See gefahren. Er schildert seine Odyssee von Rostock über Kiel nach Hamburg und jene Nacht, in der er auf der Reeperbahn »alles verjubelt« hat. Am nächsten Morgen hatte er keinen Pfennig mehr und war auch den Job los. Sein Versuch, umsonst einzukaufen, scheitert am Kaufhausdetektiv, der ihn »mit einemmal so am Schlawittchen gepackt« habe. Das Publikum tobt, es scheint die Situation zu kennen. Der ehemalige Matrose auf der Bühne lächelt besänftigend und fährt mit seiner Erzählung fort. Sein Nachfolger sieht ein bißchen aus wie Pavarotti. Er betritt den Lichtkegel etwas schüchterner, wartet kurz, bis der Saal sich beruhigt hat und beginnt leise zu singen, ein wunderbares O Sole Mio, das man inniger und schmalzloser wohl niemals zu hören bekommen hat.
Neben den komischen Szenen gibt es an diesem Abend Momente, in denen die Erzähler ihre Erinnerungen mit einer so in sich gekehrten Klarheit preisgeben, daß man glaubt, sie hätten die Bühne um sich herum vergessen. Einer erzählt, wie er als Siebenjähriger fast ertrunken wäre. Er beschreibt das Heruntersinken in den Flußschlamm, das Sich-Hochkämpfen, um den blauen Himmel wieder sehen zu können, das Schwer-Werden durch die mit Wasser gefüllten Lungen. Alles, als wäre es gestern erst passiert. Ein anderer erinnert sich an den Abend, an dem er vom Tod seines Bruders erfuhr. Sein Bericht wirkt wie eine Beschwörung, sich niemals mit diesem Verlust abzufinden. Vielleicht haben die Erzählungen für die einzelnen wirklich so etwas wie eine »Talking cure«- Funktion. Sie handeln von dem, was nicht zu ändern ist.
Der Ursprung der Spielszenen ist ein anderer. Gegen den Irrsinn des Heimalltags läßt sich mit Witz protestieren, indem man seinen Verlauf stupide wiederholt. Nichtstun, Essen, Freizeit, Schlafen und alles unter Kontrolle. Die Moringer haben ihre Form des Widerstands entwickelt. Sie spielen das einfach so oft vor, bis das Publikum es gelernt hat. Dann begleiten sie die Zuschauer zur Tür, wünschen gute Heimfahrt und gehen eine rauchen. Doja Hacker
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