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„Oh Lord, rette unsere Söhne!“

■ Die Daheimgebliebenen entwickeln vielfältige Therapien gegen ihre Ängste

Fenton, Michigan (taz) — Abends um 19.30 Uhr in der Cafeteria der Lake Fenton High School sitzen sie wie jeden Mittwoch wieder zusammen: 60 Soldatenmütter und -ehefrauen, vielleicht acht Ehemänner und ein paar vom Krieg noch nicht direkt betroffene Sympathisanten.

Wie bei der Bastelstunde im Kinderhort werden Rosetten gefaltet. Bis Ende nächster Woche soll jeder Baum in der 20.000-Seelen-Gemeinde rund 100 km nördlich von Detroit eine gelbe oder blau-weiß-rote Schleife tragen, zum Gruß an die Jungs und Mädels am Golf. Die Angehörigen der SoldatInnen wollen die Stadt für alle sichtbar in ihren Besitz bringen. Eine Woche später die geplante Großdemo im benachbarten Flint. Auch dort werden sie mit Hilfe der Ortspresse und den lokalen Radiostationen groß einmarschieren. Sie lieben die Medien, solange sie nicht über die Demonstrationen der Gegenseite berichten. Kein Platz für Protestler in Michigan. WIR sind Amerika.

Sie haben Probleme, gewiß, schließlich sind ihre Söhne und Töchter 6.000 Meilen entfernt, ohne fest gebuchtes Rückflugticket. Kaum Post, Päckchen dauern Monate, nur das Wüstentelefax funktioniert einwandfrei.

Aber deswegen sind sie ja heute abend hier: um zu lernen, mit ihrer Situation in diesem unvermeidlichen Krieg umzugehen. Eine wohlbeleibte Mutter im pinkrosa Pullover steht wie in der Therapiegruppe auf: Sie heißt Jane und will dahin kommen, einen Brief von ihrem Sohn zu öffnen, ohne gleich psychisch auseinanderzubrechen. Helen, die Ehefrau eines Marinepiloten, wird immer noch hysterisch, wenn sie auf CNN das Starten und Landen auf den Flugzeugträgern sieht. Schnell scharen sich ihre Nachbarinnen in einer dichten Traube um sie: Stark bleiben, an das Gute denken, an Amerika; und beten, immer wieder beten zum Lord.

Neue Kommunikationsformen mit den ihnen entzogenen Familienmitgliedern werden vorgestellt. Die Telephonnummer eines Hobbyfunkers, der innerhalb von 24 Stunden einen erfolgreichen Kurzwellengruß verspricht. Eine Fotografin darf im Polizeidepartment nach Dienstschluß Familienaufnahmen machen, die dann an die Liebsten am Golf geschickt werden. Es ging doch beim Abschied alles so schnell.

Was hat so viele Teenager aus Fenton nach der Schule so schnell und bedenkenlos ausrücken lassen: nach Colorado, Süd Carolina, nach Hanau oder Okinawa? Keine neuen Jobs bei General Motors in Flint, sagen die Väter. Nur Niedriglöhne bei der Hamburgerproduktion. Keine Ausbildung, keine Chance. Kein Geld, keine Ausbildung. Viele werden erst nach dem Umweg über die Streitkräfte ihre College-Ausbildung finanzieren können. Vorausgesetzt sie kommen zurück.

Das letzte Mal hat sie von ihrer Tochter Anfang Dezember gehört, erzählt eine der Frauen, da war sie noch 156 km nördlich von Riad. Sie ist stolz darauf, ein Mädchen in der Armee zu haben; auch wenn diese sich in der Wüste die Toilette mit ihren männlichen Kollegen teilen muß, sogar mit Saudis und Kuweitis. Doch die Kleine ist hart, die wird das schon schaffen.

Faxvordrucke werden verteilt, Rang und Name der Kinder gehören an den unteren Rand. Dann werden die Blätter rumgereicht, damit die Nachbarin einen lieben Gruß an die jugendlichen Krieger aus Fenton darauf schreiben kann. „Show that we care“, mit Tränen in den Augen.

In der nächsten Sitzung soll ein Gastredner eingeladen werden: ein saudischer Austauschstudent am College von Fenton. Kommt nicht in Frage, ruft aus der hintersten Reihe der aufgebrachte Vater eines Marines. Dessen Eltern schwimmen doch im Geld, und wir finanzieren auch noch seine Ausbildung. Warum ist der Kerl nicht zu Hause, um sein verdammtes Vaterland gefälligst selber zu verteidigen? Wenn der hierher kommt, knüpfen wir ihn mit den gelben Schleifen auf. Peinliche Stille. Die Abstimmung bleibt ohne Ergebnis. Zuviele Emotionen sind auch hier der Demokratie im Wege.

Es ist Zeit zu schließen. Kleine Plastiktüten mit einem Bibelspruch und drei Senfkörnern werden verteilt. Wo zerstört wird, soll auch was nachwachsen. Die Gruppe bildet einen Kreis, meine Nachbarin entschuldigt sich für ihre eiskalten Hände. Seit Kriegsausbruch sei ihr ganzer Körper völlig durcheinander, sagt sie. Pray to the Lord! Oh Herr, rette unsere Söhne. And God bless America! Rolf Paasch

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