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„Eine eindeutige Bewertung ist schwer“

■ Die Prager Ökonomen Jaroslav Fingerland und Zdeněk Chalupský über den RGW I N T E R V I E W

taz: In Mittelosteuropa wird der RGW heute als eine Organisation gesehen, mit der die Sowjetunion ihre „Satelliten“ zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwang. Aber war seine Gründung nicht auch eine Antwort auf die Marshallplan-Hilfe der USA an Westeuropa?

Fingerland: Das stimmt. Die Gründung des RGW ist eine Folge des beginnenden kalten Krieges. Die Sowjetunion konnte nicht zulassen, daß eines der späteren RGW-Mitglieder durch westliche Kapitalhilfe ihrem Einfluß entzogen wird. Daher durfte die Tschechoslowakei die Marshall-Plan-Gelder nicht annehmen, einen „Ersatz“ sollte der RGW bieten.

Chalupský: Die Voraussetzungen für den RGW wurden schon in Jalta geschaffen. Dadurch, daß die Sowjetunion die Staaten Ostmitteleuropas besetzte, zwang sie ihnen ihr politisches und ökonomisches System auf. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren versuchte sie, sie durch Rohstofflieferungen an sich binden.

Ein für den RGW positives Argument lautet, daß dadurch eine Industrialisierung der weniger entwickelten Länder ermöglicht wurde.

Fingerland: Eine eindeutige Bewertung der Leistungen des RGW ist schwer. Schließlich können wir nicht sagen, was gewesen wäre, wenn der RGW nicht oder in anderer Form entstanden wäre. Wir haben bis heute keine Kriterien zur Berechnung seiner Effektivität, da in ihm keine objektiven Maßstäbe — wie zum Beispiel Preise — funktionierten. In den ersten Jahren war es tatsächlich so, daß manche Staaten größere Vorteile, andere Nachteile hatten. Zu letzteren gehörte die Tschechoslowakei. Bereits in der Zwischenkriegszeit hochindustrialisiert, mußte sie den anderen Staaten Investitionsgüter aller Art liefern. Die Vielfalt der von ihr produzierten Güter entsprach der einer Großmacht, auf ihre Spezialisierung wurde keine Rücksicht genommen.

Chalupský: Natürlich kann man sagen: Schaut, wie schnell die ehemaligen Agrarstaaten industrialisiert wurden. Aber gefragt werden muß doch auch, um welche Form der Industrialisierung es sich handelte. Alle diese Länder mußten das sowjetische Modell übernehmen. Bis heute wird dort viel zu viel Eisen und Stahl erzeugt. Der Aufbau moderner Produktionszweige gelang nicht oder höchstens da, wo sie von der Sowjetunion direkt verwendet werden konnten. Ein anderes Problem ist, daß die Funktionäre nie wirklich versucht haben, den RGW umzugestalten. Alles war ja auch ganz bequem eingerichtet: die Abnehmer der Waren, ihre Preise standen fest. Die Qualität der Produkte spielte keine Rolle, schließlich gab es keine Konkurrenz.

Vor allem in den letzten Jahren wurde immer wieder versucht, in den RGW-Handel marktwirtschaftliche Prinzipien einzuführen. Warum ist diese „Reform“ anscheinend nicht gelungen?

Chalupský: Die meisten Prinzipien der Plan- und der Marktwirtschaft schließen sich gegenseitig aus. Wie soll eine internationale Organisation auf marktwirtschaftlicher Grundlage funktionieren, wenn alle ihre Mitgliedsländer weiter nach Plan wirtschaften? Völlig unsinnig war es, von einem transferierbaren Rubel zu sprechen. Dieser Rubel ist lediglich eine gemeinsame Rechnungseinheit, keine reale Währung.

Welche Zukunft kann die „Organisation für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit“ haben? Die neue polnische Regierung hat sich bereits gegen sie ausgesprochen. Sie sieht in ihr eine Fortsetzung des RGW.

Die Tschechoslowakei hat ebenso wie alle anderen Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ weiterhin sehr intensive wirtschaftliche Kontakte mit der Sowjetunion. Daher ist es sinnvoll, die in 40 Jahren gewachsenen Beziehungen nicht überstürzt aufzugeben. Viele Mitarbeiter unseres Instituts treten für die verschiedensten Formen internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit ein. Die Politiker sehen dies etwas anders. Sie haben Angst, daß dadurch eine Zusammenarbeit mit der EG behindert werden könnte. Interview: Sabine Herre

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