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Kette der Ernüchterungen reißt nicht mehr ab

Wirtschaft und Gesellschaft in ostdeutschen Landkreisen stehen vor dem Zerfall: zum Beispiel die Modellregion „Südraum Leipzig“  ■ Von Carl Valerie

Altenburg (taz) — Leipzig pleite, Sachsen am Ende, die Kommunen in Thüringen auf Kassenkredite angewiesen — Schlagzeilen dieser Tage, die die Probleme der ostdeutschen Länder auf ein paar Milliarden mehr oder weniger, auf Steuererhöhungen ja oder nein reduzieren. Eine gefährliche Vereinfachung. In den ostdeutschen Bundesländern steht eine ganze Gesellschaft vor dem Zerfall. Und in der Provinz sieht es besonders trostlos aus.

Der Südraum Leipzig, zu einer der neun Modellregionen für ein Neuaufbauprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums auserkoren, ist da ein typisches Beispiel. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts ein fruchtbares Bauernland, berühmt für sein Gemüse, mit einigen kleinen Städtchen, welche die Nähe zum übermächtigen Leipzig genossen. Heute empfängt den Besucher die wüste Kraterlandschaft des Braunkohletagebergbaus, mit verschlissenen Großindustrien, grauen Dörfern, verseuchten Böden und stillgelegten LPGs. Die frischen Wracks von Trabis am Rand der holprigen Chausseen und die Frittenbuden an den Ortsausfahrten gehören zu den wenigen sichtbaren Zeichen der neuen Zeit.

Nach einer kurzen Ära der Hoffnungen und Sehnsüchte regiert die Resignation. Die Zukunft, so dämmert den Menschen hier, ist dunkelgrau. Die Kette der Ernüchterungen reißt nicht mehr ab. Nun, wo fast jeden Tag ein weiteres der riesigen Braunkohlenförderbänder stehen bleibt, die gewaltigen Bagger einer nach dem anderen ihre Schaufeln zur Ruhe betten und LPG auf LPG aufgibt, Polikliniken und Kindergärten ihre Pforten schließen, Buslinien eingestellt werden und die Stadt- und Dorfkämmerer auf den nackten Boden ihrer Kassen gucken, werden die alten ohnmächtigen Fragen laut: Müssen nicht die da oben in Berlin oder Bonn, „wie das jetzt heißt“, helfen, sich kümmern, sagen, wo es lang geht?

„Sein letztes großes Jahr erlebte Altenburg 1938. Da wurde 750 Jahre Barbarossa-Stadt gefeiert. Die ganze Stadt war geschmückt. Adolf Hitler war hier. Es gab einen großen Umzug. Aber davon durften wir ja nicht mehr reden.“ Der Mitarbeiter des Landratsamtes Altenburg, der immer noch nicht weiß, ob er Staatsdiener bleiben darf, zeigt die übliche Bitterkeit eines FNLers. Aber noch etwas anderes schwingt mit. Altenburg, Kreisstadt mit noch 55.000 EinwohnerInnen, einst prächtige herzogliche Residenz am traditionsreichen Handelsweg München-Leipzig entlang der Pleiße, im 12. und 13. Jahrhundert gar Kaiserpfalz und freie Reichsstadt, fürchtet, wieder einmal vergessen und vernachlässigt zu werden.

Zunächst einmal begegnet man neuer ostdeutscher Normalität. Der beißende Geruch der Brikettheizungen mit der schwefelhaltigen Kohle aus der nur wenige Kilometer entfernten gigantischen Erdwunden des Braunkohletagebergbaus ist nicht schlimmer als anderswo, und auch die hier täglich wachsenden Schlangen vor dem Arbeitsamt sind heute Alltag. Das Landratsamt thront noch immer in seinem klassischen Prunkbau an der Clara-Zetkin-Straße. Von hier aus wurden noch vor anderthalb Jahren mit eiserner Hand die Befehle der Bezirksregierung in Leipzig exekutiert. Und diese hat nach den Weisungen der mächtigen Ministerien in Berlin ganze Arbeit geleistet.

Altlasten aus realsozialistischer Gründlichkeit

Mit unerbittlicher Konsequenz machten die realen sozialistischen Planer aus der betulich-bürgerlichen Kreisstadt mit Skatfabrik, Schloß und Landestheater eine Fabrikarbeiterstadt. Im nationalen Wirtschaftsplan war der Südraum Leipzig für Braunkohle und Braunkohleverwertung da — und sonst gar nichts.

Vor allem aber diente die Stadt als Schlafsilo für den Uranbergbau in Wismut Aue, den Braunkohletagebergbau und die gewaltigen Kohle- Chemie-Kombinate im Norden, Richtung Leipzig. 1989 arbeiteten fast 25.000 der 55.000 EinwohnerInnen in der Industrie — die meisten davon außerhalb der Stadt. Das gesellschaftliche Gefüge der Stadt ist von der sozialistischen Industrialisierung radikal umgekrempelt worden. Örtliches Bürgertum, Honoratioren und der bescheidene Dienstleistungsreichtum wurden ausgerottet. Kommunale Selbstverwaltung gab es nicht einmal auf dem Papier. Das Landratsamt herrschte nach Gouverneursmanier. Symptomatisch für den sozialistischen Aufbau Altenburgs ist der Wohnungsbau: Während im großen mittelalterlichen Stadtkern und den Jugendstilvierteln der Gründerzeit in den letzten 20 Jahren über 10.000 Wohnungen für unbewohnbar erklärt wurden, wuchsen im Norden und Osten der Stadt die Trabantensiedlungen Altenburg-Nord und Altenburg-Ost empor. In diesen Plattenbauburgen des „komplexen Wohnungsbaus“ durften die vergleichsweise gut bezahlten Ar-beiterInnen wohnen — ganz Altenburg-Nord wurde zur Schlafstadt für die zig Kilometer entfernten Uranschächte in Aue. Eine quasi entkernte Stadt, bloße Hülle und Kulisse einer jäh unterbrochenen jahrhundertelangen Geschichte.

Mit dem 9. November 1989 schien Barbarossa, der Alte mit roten Bart im Kyffhäuser, doch noch einmal Glück verheißend rotiert zu haben. Zwei rote romanische Sandsteintürme, die „Roten Spitzen“, erinnern hier noch heute an ihn. Mit Eintagesbustouren und im Trabi wurde die Neue Welt erobert. Zum Beispiel Rothenburg ob der Tauber, propper und herausgeputzt, voll von Japanern, Yen und Dollar — so ein Schmuckstück könnte Altenburg auch werden?! Es durfte geträumt werden.

Zunächst lief alles wie erhofft. Die D-Mark und die Westexperten kamen. Im Frühjahr 1990 erkor das Bundeswirtschaftsministerium den „Südraum Leipzig“ mit den Landkreisen Altenburg und Borna zu einer zu einer ostdeutschen „Modellregionen“, in der Westexperten und Einheimische gemeinsam den Neuaufbau planen sollten, mit „Signal- und Vorbildfunktion für andere Kommunen und Regionen“. Der Abbau der hier extrem schwefelhaltigen Braunkohle würde, das stand schon damals fest, ebensowenig eine kapitalistische Zukunft haben wie die Braunkohlekraftwerke und der Uranbergbau. Auch ein Gutteil der Metallindustrie — fast ausschließlich mit der Zulieferung für die Bergwerke beschäftigt — würde dicht machen müssen. Was Pessimisten damals fürchteten, ist für Realisten heute Gewißheit: In der 2.000 Quadratkilometer großen Kraterlandschaft zwischen Altenburg mit je rund 100.000 EinwohnerInnen stehen 40.000 Arbeitsplätze zur Disposition. In den Kreisstädten Altenburg und Borna wird die tatsächliche Arbeitslosigkeit noch in diesem Jahr auf 50 bis 70 Prozent klettern. Am schlimmsten getroffen sind die Neubausiedlungen, die vor kurzem noch so sehr begehrten Plattenbaumonstren. Altenburg-Nord ist schon heute ein Arbeitslosen- und Kurzarbeit-Null-Ghetto des Uranbergbaus — 5.000 Pendler wohnen hier. Die „Errungenschaft des Sozialismus“ verkommt zum Slum der Einheit.

Die Westexperten, die das Projekt „Südraum Leipzig“ in Angriff nahmen, wußten von Beginn an um die Schwere ihrer Aufgabe. Ein ganzes Konglomerat von Beratungsfirmen, die vor allem im Ruhrgebiet Erfahrungen mit dem Strukturwandel von Schwerindustrien gesammelt hatten, ahnten die Dimension des Problems. „Im Ruhrgebiet sind wir seit 15 Jahren im Strukturwandel — unter erheblich günstigeren Voraussetzungen als hier. Und noch mitten drin.“ In Altenburg und Borna selbst stellte man sich die Dinge freilich anders vor: Die Westexperten würden, so die naive Hoffnung, einen Großinvestor nach dem anderen anschleppen, ein paar Tips für die optimale Infrastruktur absondern und schließlich kofferweise aus Bonn die Ansiedlungssubventionen vorbeibringen. Im kleinen, gänzlich von der Braunkohle lebenden Borna (22.000 EinwohnerInnen), bereitete sich das Landratsamt auf den neuen Segen schon einmal vor. 900 Hektar Gewerbefläche auf der grünen Wiese wurden ausgewiesen, die Fläche einer riesigen LPG, Platz für den Autobahnzubringer zur erhofften Autobahn Leipzig-Zwickau gleich inbegriffen. Zum Vergleich Hamburg, nach Berlin die größte Industriestadt Deutschlands, hat Gewerbeflächenreserven von 600 Hektar — und das reicht für die Millionenstadt völlig aus. 900 Hektar für ein 20.000-Einwohner-Städtchen — absurd.

Es fehlen die Menschen für den Neuaufbau

Abends beim Bier im Altenburger Ratskeller des prachtvolen Renaissance-Rathauses am mittelalterlichen Marktplatz, der neben Spekulanten, fliegenden Händlern auch den Westexperten als Abendtreff dient, fallen dagegen schon mal deutliche Worte: „Die haben hier allenfalls eine theoretische Chance — aber auch die werden sie nicht nutzen können.“ Was die Westler neben der katastrophalen wirtschaftlichen Ausgangslage als größtes Problem ausmachten, ist das Fehlen jeglicher politischer Struktur. Kompetente Planer, lokales Sachwissen, ja selbst potentiell lokale Privatwirtschafler — nichts davon ist vorhanden. Kurz: Vor Ort gibt es niemanden, der selbst die kleinsten Projekte und Vorschläge in die Realität umsetzen könnte.

Die frühere Zentralisierung erweist sich als schlimme Hypothese. Der DDR-Apparat konzentrierte seine Planer und „Entscheidungsträger“ in den Berliner Ministerien. Macht und Entscheidungsspielraum in nennenswerten Umfang gab es sonst nur noch in den 15 Bezirksregierungen, einigen Großstadtverwaltungen und den Führungsetagen der Großkombinate. Die Bezirke kontrollierten mit den straff geführten Landratsämtern die Provinz. Diese strikt hierarchische und zentralistische Verwaltung wurde mit der Einheit enthauptet. Die Berliner Ministerien verschwanden, auch die Bezirke lösten sich auf. Bezirks- und Ministerialfunktionäre versuchen seither nur noch eins — in den neuen Länderverwaltungen unterzukommen. Von den alten Verwaltungsstrukturen blieben nur die Landratsämter übrig, in denen die alten SED- Macher nur aus den obersten Positionen herausgesäubert wurden. Den Landratsämtern fehlt der alte Überbau. Auf Regionalpolitik ist man nicht vorbereitet. Bis die Landesregierungen einen funktionsfähigen Überbau entwickelt haben, werden noch viele Monate, vermutlich sogar Jahre ins Land gehen. Währenddessen sorgt die neu sprießende kommunale Demokratie für Unruhe. Gerade Kleinstädte und Dörfer haben erstmals wirklich Rechte. Seit den Kommunalwahlen im Frühjahr 1990 verfügen die Gemeinden über demokratisch legitimierte Bürgermeister und Räte. Hier herrscht wuselige Aufbruchstimmung. In Altenburg hat eine kleine Gruppe im früher völlig machtlosen Rathaus den Kampf für eine bessere Zukunft der Stadt aufgenommen. Härtester Gegner dabei ist das von alten Genossen durchseuchte Landratsamt, welches seine gouvernale Macht vergangener Tage behaupten will. Einigkeit gibt es nur in einem: im Haß auf die Treuhand in Berlin. Sie verkörpert das alte Feindbild einer fernen und bösen Machtzentrale.

Das Ergebnis solcher Kämpfe ist Chaos. Für die Westexperten für den „Südraum Leipzig“ waren die Landratsämter in Altenburg und Borna die offiziellen Ansprechpartner. Umgehend wurden sie von den Kommunen boykottiert. Es herrscht völlige Unklarheit, wer eigentlich für was zuständig ist. So gibt es bei der Planung von Gewerbegebieten und der Aufstellung von Flächennutzungsplänen nicht nur schlampige und inkompetente Arbeit, sondern auch anarchischen Wildwuchs: Als die Stadt Altenburg zum Ärger des Landratsamtes Altenburg beschlossen hatte, ansiedlungswillige Baumärkte, die am Stadtrand auf die Schnelle die große Mark machen wollten, nicht hineinzulassen, sondern stadtverträgliche Ansiedlungsplanung zu betreiben, und sich die Investoren auszusuchen, stellten die Bürgermeister von Nachbardörfern den Investoren umgehend ihre grünen Wiesen zur Verfügung. Die dafür in Bonn und anderswo gestellten Förderanträge erwiesen sich dann allerdings als so grotesk, daß keine Subventionen bewilligt wurden. Auch dies ein Grund, daß viele für 1990 als Subvention bereitgestellten Milliarden im Bundeshaushalt nicht abfließen konnten.

Grundlegende Besserung ist nicht in Sicht. Zwar wird in Kürze eine Landesentwicklungsgesellschaft für den Südraum Leipzig ihe Arbeit aufnehmen, ein Team von acht Menschen, die Regionalpolitik koordinieren und moderieren, den Weg zu Fördertöpfen weisen sollen. In Altenburg wurde ein Fremdenverkehrsverein gegründet, Borna wird in asbestverseuchten Baracken des Braunkohlekombinats am Stadtrand vielleicht ein kleines Technologiezentrum einrichten.

Aber: Ein wirklicher Wiederaufbau, der eine neue, Natur und Mensch angepaßte und zukunftssichere Regionalentwicklung in die Wege leitet, ist nicht in Sicht. Es fehlt weniger an Geld als an Menschen, die eine solche Politik in die Hand nehmen und verwirklichen könnten. Was sich abzeichnet, ist eine breite Verelendung, in deren Chaos einige wenige verdienen und profitieren, viele rübermachen und die Mehrzahl als Arbeitslose und RentnerInnen mit den nächsten 10 bis 20 Jahren ihres ärmlichen Lebens den Preis der Einheit bezahlen werden.

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