: Lemmy Caution steigt nicht ein
Über die Dreharbeiten zum neuen Film von Jean-Luc Godard in der taz und in Stralsund „Solitudes“ wird von der Einsamkeit der ehemaligen DDR handeln ■ Von Thierry Chervel
Christian, unser stets freundlich gesinnter Fotograf, ist ganz rot angelaufen. Er schnaubt vor Wut. So haben wir ihn noch nicht kennengelernt. „Scheiße!“, schreit er die Filmredakteurin Christiane an, „dann macht doch euern Kram alleine!“ Er knallt einen Packen mit Fotos auf den Computertisch und macht sich wild gestikulierend davon. Christiane hatte ihn allerdings auch ziemlich schnöde abgefertigt. Jetzt tippt sie an die Glasscheibe, die ihr Terminal vom Redaktionsraum trennt, und dann tippt sie sich an die Stirn, um der Literaturredakteurin Elke zu verstehen zu geben, was sie von Christians Auftritt hält. Elke guckt kaum hin, sie telefoniert gerade mit einer Londoner Autorin: „Du schickst mir einen Artikel über Südafrika und Fotos aus Indien. Da kann doch was nicht stimmen!“ Ich selbst beuge mich derweil über den Nachbarschreibtisch und nerve die Kulturredakteurin Regine, die im Mittelpunkt der Szene steht und versucht, sich mit einem französischen Journalisten über Gefühl-Leidenschaft-Josef Conrad-Deutschland zu unterhalten. „Das ist der Artikel über die Retrospektive“, sage ich ziemlich hektisch, „da müssen mindestens fünfzig Zeilen 'raus, das Layout macht totalen Druck.“ „Mach' doch, darum kann ich mich jetzt wirklich nicht kümmern“, zischt Regine. „Thierry!“, unterbricht die immer noch telefonierende Elke, „der Typ vom 'Guardian‘ hat schon dreimal angerufen, kannst du da nicht endlich mal etwas machen?“ „Jajajaja! Ich kann mich ja auch nicht zerreißen.“ Ich sauge an meiner Zigarette und gehe ab. Annette, die zum Computer muß, kreuzt meinen Weg.
Ein ziemlich kompliziertes Ballett für eine Einstellung von vielleicht zwanzig oder dreißig Sekunden. Eine Einstellung in dem Film, den Jean-Luc Godard gerade in der ehemaligen DDR und Berlin dreht. Die Einstellung spielt in einer Zeitungsredaktion, und diese Zeitungsredaktion ist die taz, vierte Etage, Kulturredaktion überregional. Und wir spielen mit, richtige Sprechrollen — winzige, zugegeben.
Das hatten wir nicht geahnt, als wir am Sonntag zuvor zu unserer großen Begeisterung erfuhren, daß Godard bei uns drehen wolle und als er uns in der taz besuchte, um den Drehort in Augenschein zu nehmen. Godard sah ganz genau aus wie Jean- Luc Godard: Hut in der Hand, Zigarre im Mund, stoppelige Wangen, schwere Hornbrille, ein etwas altmodischer, taillierter Mantel. Ein freundlicher, kleiner Mann, der sich im Hintergrund hielt, während sein Aufnahmeleiter Romain Goupil die Gespräche führte. Aber er warf diese ein bißchen verstohlenen, aufmerksamen Blicke, die nichts von dem verraten, was sich im Gehirn dahinter abspielt. Wenn wir gewußt hätten, daß das ein Casting ist, wären wir bei den Dreharbeiten um einiges aufgeregter gewesen.
Jetzt, am Donnerstag abend, bei den Dreharbeiten, ist Godard gar nicht da. Er mußte dringend in die Schweiz. Goupil leitet die Aufnahmen. Wir sind zuerst sehr enttäuscht, dann vergessen wir über den konzentrierten und euphorisierenden Aufnahmen selbst das. Drei Proben, sechs oder sieben Takes, dann ein paar kleinere Einstellungen und Szenen, in denen wir als Komparsen nicht gebraucht werden. Tonaufnahmen. Um sechs Uhr nachmittags hatte der Kameramann begonnen, das Licht zu setzen — kein zusätzliches, nur die vorgefundenen Schreibtisch- und Deckenlampen. Um zwei Uhr morgens ist alles zu Ende. Nur Elke ist sehr traurig. Godard, so erzählt der Kameramann, hätte ihr gerne eine richtige kleine Rolle gegeben. Sie hätte nur ein bißchen besser französisch sprechen müssen. Das hätte sich doch arrangieren lassen! Jean Seberg, Anna Karina, Brigitte Bardot, Juliet Berto, Jane Fonda, Isabelle Huppert, Elke Schmitter. Immerhin — ich meine — keine schlechte Tradition.
Die Einsamkeit der DDR
Solitudes ist der Arbeitstitel des Films, „Einsamkeiten“ — ein Film in einer Reihe von 50-Minuten-Filmen, die der französische Fernsehsender Antenne 2 bei mehreren Regisseuren in Auftrag gegeben hat, unter anderen Kubrick, Wenders, Bergman und eben Godard.
Godards Film handelt von der Einsamkeit der DDR, nachdem sich das Medieninteresse längst an den Golf verflüchtigt hat und nachdem es die DDR gar nicht mehr gibt, sondern nurmehr so etwas wie den Abdruck eines Steins, der darauf lastete und nun fortgewälzt ist. Eddie Constantine spielt — 25 Jahre nach Alphaville — einen CIA-Spion namens Lemmy Caution, der seinen Einsatzort ganz weit im Osten der DDR hatte. Graf Zelten (Hanns Zischler) besucht ihn und teilt ihm mit, daß er nun nicht mehr gebraucht werde. Lemmy Caution macht sich auf den Weg nach Westen. Madame de Staäl spielt auch mit, Tacitus wird zitiert, Sancho Pansa fährt einen hellblauen Trabant, und Lotte, Milena, Liebelei, Brecht, Weill und Webern kommen vor: „Sie haben die Musik totgemacht, das ist Amerika.“ „Meinst du den betrunkenen amerikanischen Soldaten, der auf Webern geschossen hat?“ „Jetzt taugt sie nur noch für Aufzüge und Kaufhäuser“ (Zitat aus dem Exposé).
Der Film wird kein Happy-End haben. Lemmy Caution findet den Westen. Es ist kurz vor Weihnachten, eine böse Konsumwelt. Die Mörder von Webern oder Hans und Sophie Scholl könnten hier gerade einkaufen. Der Film soll ziemlich hart sein mit Deutschland. Bei Godard ist zu hoffen, daß die Schonungslosigkeit dieser Auseinandersetzung nicht selbstgerecht ist wie in manchen französischen Filmen, die nur auf Deutschland zeigten, um von der französischen Mitschuld abzulenken.
Stralsund
Solitudes wurde nicht in chronologischer Reihenfolge gedreht. Begonnen wurde mit dem Schluß, der in München spielt. Die anderen Stationen waren Leipzig, Bitterfeld, Weimar, das DEFA-Gelände in Babelsberg, Potsdam, Berlin und Stralsund, wo Anfang März die letzten Dreharbeiten stattfanden.
Ein größerer Gegensatz zum Tumult der Zeitungsszenen läßt sich kaum denken. In Stralsund ist atmosphärischer Stillstand. Der Stein der vierzig Jahre mag fortgewälzt sein, aber der Muff, der sich darunter breitmachte, ist längst nicht weggezogen. Stralsund liegt unter einer Dunstglocke. Es ist feuchtkalt, das Licht diesig. Die Sonne hat Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die Braunkohlepartikel zu bahnen. Die Ostsee ist schlapp und hat vergessen, wie ein Meer riecht.
Es ist, als wäre die Abschaffung der DDR bisher nur ein formeller juristischer Akt. Als Wirklichkeit existiert sie fort. Bezahlt wird in Westmark, aber die Preise sind nach wie vor krumm. Hilflos versuchen sie zu kaschieren, daß nunmehr auf Profit kalkuliert werden muß. Die Tasse Kaffee kostet 2,35 Mark. Das „Mehrfruchtgetränk“ für 3,10 Mark, das im Hotel am Bahnhof statt des im Westen üblichen Orangensafts zum Frühstück gereicht wird, scheint weniger dazu bestimmt, den morgendlichen Vitaminbedarf zu decken, als ihn in Erinnerung zu bringen. Gruppen von zehn Personen werden in Restaurants nicht von eilfertigen Wirten empfangen, sondern von freundlich-betrübten Kellnerinnen, die bezweifeln, daß ihre Küche eine derartige Kapazität aufbieten könne. Auf der Karte steht fast nur Schweinefleisch, das Rinderfilet „ist heute nicht da“, der Fisch — eine einzige Nummer auf der Speisekarte — sieht aus, als wäre er unter Umgehung des Meeres gleich in der Tiefkühltruhe gezogen worden.
Land's End. Lemmy Caution lehnt sich auf dem Bahnhof Stralsund-Rügendamm an einen Laternenpfahl und liest in einem Buch von Sigmund Freud. Der Zug hinter ihm fährt ab und gibt den Blick frei auf ein großes Schiff im Hafen. Lemmy Caution nimmt weder Zug noch Schiff. Er betrachtet sie höchstens und geht zu Fuß. Godard scheint der Geschwindigkeit der Medien und der nunmehr grenzenlosen Verkehrsmittel zu mißtrauen. Lemmy Caution meditiert, liest, wandert, konstatiert nebenbei, „was bleibt“. Die Perspektiven, denen er sich ausgesetzt sieht und die das Team einfängt, der Verfall und die Tristesse, sind malerisch und bestürzend zugleich.
In jedem Fall aber dürsten sie förmlich danach, endlich in Bilder gesetzt zu werden, als könnten sie dadurch erst begriffen und vielleicht verändert werden. Solitudes ist schon der richtige Titel — selten wirkt ein Land so im Stich gelassen wie heute die DDR. Es ist seltsam und beunruhigend, daß erst Leute wie Marcel Ophüls mit November Days und Jean-Luc Godard mit Solitudes kommen müssen, um die Bilder tatsächlich auch zu machen, während sich deutsche Filmemacher — von ein paar Dokumentarfilmern abgesehen — lieber in die Verfilmung alter Romane verkriechen.
Die Muster von Solitudes, so berichtet die kleine Crew von vier oder fünf Technikern und Assistenten, mit der Godard seine Expedition unternahm, seien beeindruckend — ruhig und präzise. Selten sei Godard in den letzten Jahren so begeistert gewesen bei Dreharbeiten. Drei Monate lang war das Team in der DDR unterwegs — eine extrem lange Drehzeit für einen Film von fünfzig Minuten. Material gäbe es inzwischen wohl schon für mehrere Stunden. Man überlegt, ob man neben der Fernsehversion nicht noch eine längere Fassung daraus machen soll. Wir würden das begrüßen.
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