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Schließt Wynekens Schulgemeinde Wickersdorf für immer die Pforten?

■ Sechzig Schüler, die im September nach Wickersdorf kommen wollten, erhielten die Absage

Leipzig. 1991 jährt sich zum 85. Mal die Gründung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf in Thüringen. Durch das Wirken Gustav Wynekens, Paul Geheebs, August Halms, Peter Suhrkamps, Rudolf Pannwitz' und anderer erfolgreicher Lehrer und Erzieher über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt geworden, entwickelte diese Schule eine starke Anziehungskraft, die viele Familien bewog, ihre Söhne und Töchter gerade dort aufwachsen zu lassen.

Fest verbunden mit dem Namen Wickersdorf ist das pädagogisch- philosophische Lebenswerk Gustav Wynekens, der heute seinen festen Platz in der reformpädagogischen Weltliteratur behauptet. Die Thüringer Schule verkörpert also ein achtbares Stück deutscher Bildungsgeschichte — geprägt von einem fortschrittsbesessenen Bildungsbürgertum, das um des hohen Anspruchs willen weder finanzielle Aufwendungen noch erbitterten Widerstand gegen Schulbürokratie und kirchliche Einmischung scheute.

So vertrat die Freie Schulgemeinde in der Weimarer Republik neben der von Paul Geheeb und Edith Cassirer 1910 gegründeten Odenwaldschule am reinsten jene demokratischen Schulstaaten, die sich stark abgewandelt aus den Lietz'schen Landeserziehungsheimen (LEH) entwickelt hatten. Anders als Schloß Salem und Odenwaldschule, deren Leiter Kurt Hahn und Paul Geheeb 1933 das Land verließen, um die Tradition der Schulen vor faschistischer Pervertierung zu schützen, hatte Wickersdorf schwer daran zu tragen, daß die Nazis in Thüringen früh Machtpositionen besetzten. 1932 wurde der Status der Freien Schulgemeinde durch Verfügung des Ministeriums aufgehoben. Als Oberrealschule rühmte sich die neue Führung, »judenfrei« zu sein, nachdem Wickersdorf jahrzehntelang insbesondere von jüdischen Familien ausgebaut und finanziert worden war. Ein Teil der Schule wurde ein verspießertes Fremdenheim, um das fehlende Geld zu »erwirtschaften«. Faschistischer Einfluß breitete sich aus. Die Pension Wynekens wurde gestrichen. Den Aufsichtsrat leitete jetzt der nazitreue Ministerpräsident Marschler.

1945 erlebte Wickersdorf als Landesintenatsschule Thüringens für kurze Zeit eine neue Freizügigkeit. In der Phase der Umerziehung (Reedukation) schienen sich erfreuliche Parallelen zur Odenwaldschule unter der leitung von Minna Pecht zu entwickeln. Doch sorgten Dogmatismus und Zentralismus in der DDR bald nach 1949 dafür, daß die Schule weitestgehend ihrer Eigenart beraubt wurde. Das Profil der erweitereten Sprachausbildung auf Kosten der Allgemeinbildung trug dazu bei, den Horizont zu verengen un die Erinnerung an das anspruchsvolle Niveau der alten Schule Wynekens mit ihrem geistig-musischen Klima zu verdrängen.

Der 85. Jahrestag könnte den Beginn einer neuen Etappe der Schulentwicklung kennzeichnen. Thüringen hätte die große Chance, Voraussetzungen zu schaffen, um eine Schule alter Tradition entsprechenden Anforderungen der modernen Zeit umzugestalten. Dies aber erfordert breite Öffentlichkeit, liberalen freiheitlichen Geist. Es ist erforderlich, Schülern und Eltern die Mitbestimmung bei der Wahl eines geeigneten Schulmodells zu gewähren.

Nichts wäre schädlicher als die erneute Übertragung fremder Muster. Hilfreich könnte die Tätigkeit des Fördervereins der Freien Schulgemeinde e.V. Mit Sitz in Frankfurt am Main sein, der sich bemüht, den Kreis von Freunden und Förderern der Schule zu erweitern und zum Nutzen der Schüler zu aktivieren.

Doch leider fallen jetzt Entscheidungen ohne jede Berücksichtigung der Schultradition. Mitte Februar war plötzlich in München (!) zu erfahren, daß die Schule auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden solle.

Jetzt erhielten die Betroffenen auf einer Elternversammlung die schockierende Mitteilung, dem Kultusministerium liege ein Antrag auf »freie Trägerschaft« vor. Die Schule werde zwecks Generalrekonstruktion geschlossen. Die Forderung der Eltern, zumindest die oberen Klassen das Abitur am Orte machen zu lassen, fand kein Gehör.

Sechzig Schüler, die im September neu nach Wickersdorf kommen wollten, erhielten bereits die Absage. Damit sägt man am Ast der ökonomischen Existenz, ist doch das Schulgeld einer möglichst großen Schülerzahl eine der sicheren Quellen zur Erhaltung. Versteckte sich also hinter der Formel der Generalrekonstruktion die Absicht, die Schule für immer zu schließen oder die Gebäude für ausländische Bürger einzurichten?

Thüringen bedarf dringend der Bewahrung und Aufwertung seiner Denkmäler und Zentren regen Geisteslebens! Wir appellieren an alle Freunde der Schule, die Schließung zu verhindern. Prof. Dr. Eva Seeber

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