: Die Welt hinter Linien
■ Eine Ausstellung der Mailänder Gruppe »WURMKOS« im Babylonia
Antonio Fortezza malt Stühle, ganze Herden von Stühlen, die wie lebendige Wesen die Flächen seiner Bilder bewohnen. Hin und wieder stellt er ganz gewöhnliche Stühle in den leeren Raum vor seinen ungewöhnlichen Stuhlbildern. Antonio variiert Form, Größe, Farben und Untergrund, malt mit Öl auf Bettücher oder Fliesen, die, je nach den Gegebenheiten des Ausstellungsraumes, horizontal und vertikal an der Wand angebracht werden können, als zusammenhängender Zyklus aber nicht voneinander getrennt werden dürfen.
Catarina Caserta hingegen hat eine Vorliebe für große Schränke. Sie schätzt geometrische Formen und klare Linie. Ähnlich wie ihre Kollegin Isabella de Robertis bearbeitet sie textile Flächen mit Kohle und Ölfarben. Isabella verzichtet allerdings auf »realistische« Vorbilder zugunsten eines freien Stils mit verschiedenen Farben und großen, freizügigen, runden Formen. Ihre Bilder tragen ebensowenig einen Titel wie die von Nicola Santoro, der auf einem fotografischen Hintergrund durch Bearbeitung der oft rein zufällig ausgewählten Bilder die Außenansicht der Welt fast vollständig hinter einem dichten Vorhang feiner, pastellfarbener Linien verschwinden läßt.
Salvatore Fede hat sich für den transportablen Untergrund entschieden, arbeitet mit Fliesen, Koffern und Teilen von Koffern, die, mit Ölfarben bemalt, frei im Raum aufgestellt werden können, die er aber am liebsten, an Autos befestigt, als mobile Kunst in die Welt fahren lassen möchte. Angela Tortoci bevorzugt form- und fühlbares Material und hat im Laufe der Zeit eine Mischtechnik entwickelt, in der so gut wie alle Materialien zu Verwendung kommen können, wie in einem ihrer Bilder zum Beispiel Packpapier und Brottüten, die zufälligerweise noch das Gütesiegel ihre Waren tragen. Im Zentrum des Bildes steht in großen Buchstaben und mit berechtigtem Stolz ihr Name: »ANGELA!«
Eine einheitliche künstlerische Linie ist bei den Bildern der sechs Mailänder Künstler nicht ohne weiteres auszumachen. Wenn sie sich nicht nach üblichen Mustern beschreiben, kategorisieren oder irgendwelchen künstlerischen Richtungen zuschlagen lassen, so liegt das in erster Linie an der individuellen und höchst kompromißlosen Darstellung des jeweils gewählten Lieblingsgegenstandes oder an der eigenwilligen Handhabe der bevorzugten Technik. Was die sechs allerdings verbindet, ist die Abwesenheit öffentlicher Protektion und ein Mangel an finanziellen Mitteln, was in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatsache steht, daß es sich bei den Mitgliedern von WURMKOS um sogenannte psychisch Kranke handelt. Seit mehreren Jahren leben und arbeiten sie gemeinsam in einer Kooperative in der Nähe von Mailand, in der sie entweder ihren ständigen Wohnsitz genommen haben oder mit der sie in intensivem Arbeitskontakt steht, obwohl sie noch innerhalb ihrer Familien leben. Die Kooperative »Lotta Contro L‘Emarginazione« (»Kampf gegen Ausgrenzung«), entstanden aus einer Initiative Freiwilliger im Jahre 1975 (wie viele andere ihrer Art in Italien zur selben Zeit), erlangte im Zuge der Psychiatriereform in Italien (»Legge Basaglia« 1978 — ein Gesetz, das die Öffnung der geschlossenen Psychiatrie verfügte) öffentliche Anerkennung und damit einen gewissen Anspruch auf öffentliche Gelder zur Unterstützung der Arbeit in der Kommunität. Claudio Palvarini, einer der führenden Mitglieder der Kooperative, hebt hervor, daß die Kooperative sich als Mittler zwischen den Betroffenen, ihren Familien und der Gesellschaft begreift und in dieser Funktion Mikrostrukturen als Alternative zu gängigen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zu entwickeln versucht. Die Kooperative also nicht als abgeschlossener Schutz- und Fluchtraum, sondern vielmehr als Wohn-, Arbeits- und Lebensraum zur Entfaltung handwerklicher und kreativer Kräfte. Als politisches Modell ist sie offen für sämtliche sogenannte soziale Randgruppen im weitesten Sinne mit dem Ziel, eigenständige Arbeitsformen zu entwickeln, Werkstätten und Geschäfte zu betreiben und zugleich deren Konkurrenzfähigkeit auf dem freien Markt zu erproben.
Die Gruppe WURMKOS als eigenständige künstlerische Gruppe innerhalb der Kommunität zeigt dabei nur eine von vielen Möglichkeiten auf, in einen inhaltlichen und zugleich »ökonomischen« Dialog mit der sogenannten »normalen« Gesellschaft zu treten. Sie distanziert sich damit zugleich eindeutig von der Auffassung künstlerischer Arbeit als Beschäftigungstherapie. »Es gibt«, so der Maler und »Manager« der Gruppe, Pasquale Campanella, »keine gesunde und keine kranke Kunst.« Schließlich sei auch keineswegs jeder »normale« Mensch in der Lage, gute Bilder zu malen, »deshalb hasse ich es, wenn man eine Gruppe sogenannter Irrer in ein Zimmer sperrt, weil einem keine bessere Therapie einfällt«. Wie bei jedem anderen Menschen auch sei es notwendig die individuellen Ausdrucksformen der einzelnen herauszufinden, ihnen verschiedene Formen der Darstellung, des Ausdrucks und des Materials zur Verfügung zu stellen. Selbst jedem Begriff von Therapie abhold, hat sich Pasquale, der sich weder als Lehrer noch als Vermittler von künstlerischen Techniken begreift, schlicht und einfach auf Talentsuche gemacht und unter den Mitgliedern der Kooperative erstaunliche künstlerische Anlagen entdeckt, eine Entdeckung, die nicht immer unproblematisch ist und bei den Angehörigen nicht selten auf Unverständnis und Mißtrauen stößt. Für Pasquale ist bei der Arbeit letztendlich das Kriterium künstlerischer Qualität ausschlaggebend. Auf dieser Basis hat WURMKOS bereits in verschiedenen privaten und öffentlichen Galerien in und um Mailand ausgestellt. Die Galerie, so Pasquale, ist explizit ein Ort der Kunst, wo der Ausstellende mit einem Publikum konfrontiert ist, das nicht angetreten ist, wohlmeinend die Ergebnisse beschäftigungstherapeutischer Bemühungen zu begutachten. »Als Ausstellende sehen wir uns in Konkurrenz zu jedem beliebigen anderen Künstler, und schließlich kommen wir, unsere Bilder zu verkaufen!«
Das Babylonia als Ausstellungsort in Berlin und erster Ausstellungsort im Ausland (weitere Ausstellungen in Spanien und Jugoslawien werden folgen) ist nicht zufällig gewählt. Gesucht wurde diesmal ein öffentlicher Raum, dem nicht die aseptische Atmosphäre einer Galerie anhaftet und der andere und neue Publikumsreaktionen möglich macht. Wer beispielsweise einen der kleinen Unterrichtsräume des Babylonia betritt, wird unerwarteterweise nicht an Catarinas Riesenschrank vorbeikommen. Die Räume und Wände sind der Gruppe dabei vollkommen zur eigenen Gestaltung überlassen worden.
Das Babylonia nutzte die Gelegenheit gleichzeitig zu einer Begegnung zwischen Mitgliedern der Mailänder Kooperative und vergleichbaren Berliner Initiativen (unter anderem KOMM RUM) und veranstaltete am Samstag nachmittag eine Diskussion zur Problematik alternativer psychiatrischer Modelle. Claudio Palvarini, der die (wie er sie nennt) Softkonservativen bereits wieder auf dem Vormarsch sieht, warnte vor einer schleichenden Entpolitisierung der Arbeit der Kooperativen und vor einer Rückkehr zum »kleinen und guten Irrenhaus«, während Vertreter von KOMM RUM Geschichte und Entwicklung ihrer Initiative selbstkritisch hinterfragten und vielleicht eine etwas pragmatischer orientierte Diskussion vorgezogen hätten. Schließlich hätten sie festgestellt, daß sie trotz aller Alternativbestrebungen »auch nicht die besseren Menschen« seien. Um so besser allerdings für unsere Kunst, konstatierte Pasquale, denn das kann ja nur heißen, daß wir endlich mit ein und demselben Maß gemessen werden müssen. Felicitas Hoppe
WURMKOS im Babylonia, Cuvrystr. 20 in Kreuzberg 36.
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