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Britische Justiz „arrogant und despotisch“

Nach der Freilassung der Birmingham Six wächst die Kritik am Justizsystem/ Das Justizverbrechen an den Birmingham Six ist lediglich die Spitze eines Eisbergs/ „Die Richter sind berüchtigt dafür, bei ihrer Einschätzung von Zeugen falschzuliegen“  ■ Von Ralf Sotscheck

Der Fall der Birmingham Six hat die britische Justiz in ihren Grundfesten erschüttert. Nachdem die sechs Iren vor acht Tagen von dem Londoner Berufungsgericht — nach über 16 Jahren Haft — freigesprochen worden waren, forderten 102 Abgeordnete aller Parteien den Rücktritt Lordrichter Lanes, da er sich während der letzten Berufungsverhandlung 1987 „arrogant und despotisch“ über sämtliche Entlastungsbeweise hinweggesetzt habe. Roy Hattersley, der stellvertretende Vorsitzende der Labour Party, warnte jedoch davor, die „Unzulänglichkeiten des Justizsystems an einer Person“ festzumachen.

Das Justizverbrechen an den Birmingham Six ist lediglich die Spitze eines Eisbergs. Es gibt unzählige andere Fälle, in denen starke Indizien für die Unschuld der Verurteilten sprechen. In den meisten Fällen beruhten die Urteile einzig auf den Geständnissen der Angeklagten, die sie angeblich bei Polizeiverhören abgelegt haben. Auffällig oft sind diese „Geständnisse“ in den ersten 48 Stunden nach der Festnahme gemacht worden — bevor die Angeklagten Zugang zu einem Rechtsanwalt hatten.

Die britische Regierung hat mit der Einsetzung einer Königlichen Kommission — der ersten seit der Amtsübernahme der Torries vor zwölf Jahren — die tiefe Krise des Justizsystems eingestanden. Ins Kreuzfeuer der Kritik sind vor allem die Berufungsrichter geraten. Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1907 können Berufungsgerichte Urteile aufheben, wenn neue Beweise aufgetaucht sind, die den Geschworenen im ursprünglichen Prozeß nicht bekannt waren.

Ansonsten hat das Schwurgerichtsurteil immer Vorrang. Auf diesen Pargraphen ziehen sich die Berufungsrichter seitdem zurück, wenn Forderungen nach Wiederaufnahme von Prozessen laut werden. Andererseits hat das britische Oberhaus die Berufungsgerichte 1974 praktisch mit den Vollmachten von Geschworenen ausgestattet: Die Richter alleine entscheiden, ob die neuen Beweise glaubwürdig sind. Und bisher ist noch jeder Richter davon ausgegangen, daß die Polizei niemals lügt. Ein bekannter Rechtsanwalt sagte in dieser Woche: „Die Richter sind berüchtigt dafür, bei ihrer Einschätzung von Zeugen falsch zu liegen. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß sie dramatische Veränderungen des Justizsystems hinnehmen werden, weil das einer offenen Kritik an dem System, das sie verkörpern, gleichkäme. Sie lehnen jede Rechenschaft gegenüber der Öffentlichkeit und jede Einmischung in ihre Amtsführung grundsätzlich ab.“

Der Anwalt blieb anonym, weil er seine Karriere nicht gefährden wollte. „Wenn man einmal als Störenfried bekannt ist, kommt man in diesem Beruf nicht mehr voran“, sagte er. Englische Richter werden nach einem für die Öffentlichkeit unüberprüfbaren Verfahren ernannt. Anders als in den USA repräsentieren sie keinen Querschnitt der Bevölkerung: Sie sind männlich, weiß und stammen fast ausnahmslos aus der Oberschicht. In den höheren Justizetagen sitzt keine einzige Frau, von den 500 höchsten Richtern ist nur einer schwarz. Kritiker werfen den Richtern vor, daß ihr persönlicher Hintergrund ihre Entscheidungen beeinflusse und ihre Macht deshalb eingeschränkt werden müsse.

Die Birmingham Six haben nach ihrer Freilassung erklärt, daß sie das Geld, das für sie gesammelt wurde, der Kampagne für die Freilassung anderer unschuldig Verurteilter zur Verfügung stellen wollen. Sie wiesen vor allem auf den Fall von Judith Ward hin, die 1974 einen Bombenanschlag auf einen Armeebus verübt haben soll, bei dem zwölf Soldaten ums Leben kamen. Bei einem Besuch in Dublin in dieser Woche sagte Richard McIlkenny zur taz: „Ich habe keinen Zweifel daran, daß sie unschuldig ist. Das Urteil gegen sie basierte einzig auf einem angeblichen Geständnis in Polizeigewahrsam.“ Billy Power fügte hinzu: „Ich hoffe, daß sie bald das gleiche Erlebnis haben wird, das ich am Morgen nach meiner Freilassung hatte: Als ich zur Tür sah, fiel mir sofort auf, daß da eine Klinke war. Ich konnte einfach hingehen und die Tür öffnen.“

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