: Kastrierte Christussage
■ Der zerstückelte Passionsfilm »I.N.R.I.« von Robert Wiene im Babylon-Mitte
Es macht sehr wohl einen Unterschied, in welchem Marken- Diskonter man seinen Osterhasen kauft. In manchen Läden schauen sie gar grimmig drein, anderswo wirken sie leblos wie aus der Retorte und nur wer wirklich sucht, findet die Hasen mit den würdevoll- weisen Gesichtern. So ähnlich ist es auch mit den Variationen zur Leidensgeschichte unseres Herrn Jesu: Oberammergau und Monty Phyton trennen Welten, ideologische, kulturelle, historische.
Das Babylon-Mitte zeigt zum 1991. Karfreitag eine in den zwanziger Jahren entstandene und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ideologisch gereinigte Filmversion der letzten Tage vor dem Osterfest. Hans Neumann oblag die Gesamtleitung der Produktion von I.N.R.I. Er wollte, so zitiert ihn die 'Filmwoche‘ vom Dezember 1923, mit diesem Film der ganzen Welt zeigen, daß sich Deutschland nach dem verlorenen Krieg auf die wahre Moral der christlichen Lehre besinne: »denn nicht die Verhetzung, nicht Kampf aufs Messer, der Zwist unter den Nationen, die Rivalität der Völker können zum guten Ende führen — dorthin gelangen wir allein durch die Besinnung auf das Opfer, das jeder einzelne zu bringen hat.« Statt Jesus' Lebensgeschichte in die Welt der zwanziger Jahre zu übersetzen, kam Neumann auf die Idee, den Caligari-Regisseur Robert Wiene eine zeitgenössische Rahmenhandlung inszenieren zu lassen: »Der Zimmergeselle Ferleitner ist Anarchist, Nihilist. Er hat der Menschheit einen Dienst dadurch erleisten wollen, daß er einen Minister ermordete; und nach der Tat wurde er verhaftet. Das Gericht verurteilt ihn zum Tode. Ferleitner betrachtet sich als einen neuen Christus, der für sein gutes Wollen den Tod erleiden muß.« Um Klarheit über sich und seine Tat zu bekommen, schreibt Ferleitner in der Nacht vor der Hinrichtung das Leben Jesus' nieder und begreift, daß nur das Selbstopfer, nicht etwa Gewalt der Menschheit Heil bringt. »Er selbst, Ferleitner, ist kein Erlöser, sondern ein verirrter Mörder.« Auf Celluloid gibt es diese Parallelhandlung möglicherweise gar nicht mehr. Die Flucht eines Terroristen der zwanziger Jahre in die politische Apathie der im Film extrem masochistisch dargestellten Christengemeinde ist von irgendwelchen Weisungsbefugten wahrscheinlich als reaktionär empfunden worden und deswegen in die Mülltonne des staatlichen Filmarchivs der CSFR gewandert. Aus diesem Archiv nämlich stammt die einzige derzeit katalogisierte Kopie von I.N.R.I. Zerhackt kam sie zurück ins Herstellungsland, aber bereichert um tschechische Zwischentitel, die bei der Vorführung deutsch eingelesen werden sollen. Alles, was das Babylon von Wienes I.N.R.I. noch zeigen kann, sind die übriggebliebenen, aneinandergestückelten Sequenzen Bethlehem / Einzug nach Jerusalem / Letztes Abendmahl / Kreuzweg / Golgatha.
Die Leidensgeschichte selbst ist im Stil jener religiösen Gemälde dargestellt, die früher in den Schlafzimmern von Verwandten auf dem Land hingen. Wie dort ist Jesus' Erkennungszeichen auch in I.N.R.I. der Mittelscheitel und sein braunes, gelocktes, schulterlanges Haar. Jesus wird, genau wie es die literarische Vorlage erzählt, fortlaufend von allen beschimpft oder mißhandelt, nur Maria und Maria-Magdalena haben Mitleid mit ihm. Bei den Dreharbeiten allerdings, so wird kolportiert, haben sich auch diese beiden Damen nicht solidarisch verhalten: Asta Nielsen soll Henny Porten einige Male absichtlich nicht aufgefangen haben, als erstere Ohnmachtsanfälle spielen mußte. Dem Trauerspiel verleihen allein die gemalten 2-D-Kulissen und die avantgardistische Filmarchitektur einen sehenswerten Hintergrund. Ernö Metzner hat Papp- Palmen und Papp-Berge entworfen, die den Nahen Osten nur mehr metonymisch andeuten. Die staubig-öde Wüstenlandschaft wurde dazu in ein unwirkliches Licht getaucht, das weder Tag noch Nacht sein will. Insgesamt wirkt der Film wie ein Osterhase, dem vorzeitig die Ohren abgebissen wurden und bleibt folglich empfehlenswert eigentlich nur für Freunde des Bibelfilms und Filmhistoriker, die Spaß daran haben, sich die Einzelheiten der fehlenden Rahmenhandlung aus der Fachliteratur zu rekonstruieren. Dorothee Wenner
I.N.R.I. am Karfreitag um 19.30 Uhr im Babylon-Mitte. Mit musikalischer Live-Begleitung von Simon J. Drees (Violine) und Jürgen Kurz (Klavier).
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