: Über den Sturm der Gedanken und glänzende Augen
■ Dr. Markus Wawerzonnek, Leiter des Hamburger Institutes für interdisziplinäre Sexualforschung, über unsere Gefühle im Frühling
taz: Seit Jahrtausenden wird behauptet, daß man sich im Frühling schneller verliebt, weil die Liebessäfte besonders kräftig strömen. Was strömt da eigentlich?
Dr. Markus Wawerzonnek: Würde es tatsächlich einen strömenden Liebessaft geben, wäre ich Liebessaftforscher geworden und nicht Wissenschaftler des Bewußtseins. Frühling ist eine Zeit der Veränderung, von Bewegung und Entwicklung. Das Weiße, Graue und Dunkle des Winters wird farbig, die Kälte wandelt sich in Wärme und die grauen Gesichter in offenere, wenn wir bereit sind, unsere Sinne mit diesen neuen Wahrnehmungen zu aktivieren. Sonnenstrahlung, Farben, Gerüche, Geräusche und sogar der andere Wind werden über unsere Sinne wahrgenommen und veranlassen die Ausschüttung verschiedener Stoffe in der Gehirnregulation, die zu einer positiven Grundstimmung führen. Diese Stimmung strahlen wir im Frühling vermehrt aus, wirken daher auf andere attraktiver. Damit wird deren Interesse, Beachtung und Zuwendung höher, für uns wiederum eine Bestätigung, was einen weiteren Anstieg der Ausschüttung von Endorphinen (»Glücklichmacher«) führt. In diese positive Ausstrahlung wird sich verliebt, in den Sturm der Gedanken glänzender Augen und echten Lächelns. Sonst strömt nix.
Woran merkt man eigentlich körperlich, daß man verliebt ist?
An den feuchten Händen, erhöhtem Blutdruck bis hin zum Herzrasen, »inneren Erregungsformen«, mit diesem leichten Druck in der Magengegend, »den Schmetterlingen im Bauch«, Kribbeligkeit und kleinen »nervösen Ticks« und anderen Übersprungshandlungen bis hin zur körperlich spürbaren Erregung. Verlieben bedeutet für die meisten Menschen einerseits Faszination, Freude und Erstaunen, daß es da mindestens einen Menschen gibt, der bisher unerfüllte Sehnsüchte nach berühren und berührt werden zu erfüllen scheint. Endorphine, die Lust- und Glücklichmacher des Bewußtseins, verschaffen uns nicht nur glänzende Augen, sondern lassen uns freudig fixiert die neue Lebenssituation des Verliebens gedanklich und in der Phantasie erleben. Aber Angst regiert die Welt. Angst, man sei nicht faszinierend genug — oft zu recht, weil selbst zu defizitär (kaputt, unattraktiv, manipulierend, dominierend, phlegmatisch, stagnierend, funktional...). Den Menschen des Verliebens nicht halten zu können, setzt Streßhormone und Peptide frei, die zu allen körperlichen Reaktionen führen, die wir von Angstsituationen kennen. Verlieben und Lieben ohne Angst und Unsicherheit ist reines Glücksgefühl: Psychosomatik und Unwohlsein wird durch kreative Offenheit, Neugierde und phänomenale Aktivität und Wahrnehmungserweiterung zum vitalen Lebenselexier.
Viele Leute klagen im Frühling darüber, daß sie sich gerne verlieben würden, es ihnen aber nicht gelingen will. Was empfehlen Sie?
Sich zunächst einmal vor diesen ehrlichen, sezierend-genauen inneren Spiegel zu stellen mit der Frage, was denn wirklich an einem selbst (ver-)liebenswert und begehrend, Nähe, Innigkeit und Kreativität schaffend ist. Jeder hat die Fähigkeiten, sich liebenswert zu gestalten: durch offenes, kritisches Bewußtsein mit der Information, daß jeder Mensch der Architekt seiner eigenen Wunschwelt und Wirklichkeit ist. Verfettet oder verhärmt, mißtrauisch, ängstlich, voller Verletzung oder Haß, Hüllen der Dominanz, Dackelhängesuchaugenblick, Selbstmitleid und das ganze Repertoire an Psychosomatik, unreiner Haut und Gesichtsausdrücken, die zwischen nichtssagend und negativ hin- und herpendeln. Jeder Mensch kann die Fähigkeiten, die ihn liebenswert, erotisch, interessant und begehrend machen, in sich aktivieren. Wer diese Reise zu sich selbst, den verschütteten Sehnsüchten und Möglichkeiten nicht unternimmt, lernt sich nicht kennen und lieben. Wie sollen es dann andere Menschen können?
Die Sexindustrie boomt vor allem in Ostdeutschland. Haben die Ex- DDRler in den letzten 40 Jahren eigentlich alles falsch gemacht?
Wer mit dem erhobenen und ausgestreckten Finger auf drüben zeigt, lenkt nur von der totalen Misere bei sich selbst ab. Stümperhaftes Herumstochern, stupides Schweigen, beschlafen und beschlafen lassen, Angst, Unsensibilität und immer wieder das Verschütten eigener Sehnsüchte und die Selbstmanipulation mit der eigenen Phantasie zugunsten eines Funktionieren von Genitalien ist allgegenwärtig. Alles, was anders ist und die Möglichkeit birgt, eine Sekunde des neuen Lebens zu einem Erleben zu machen, findet Interesse. Deswegen der Boom. Das Bewußtsein von Qualität und Sinnvollem wird sich leider erst dann bilden, wenn begriffen wird, daß mitsamt der Produkte der Sexvermarktungsindustrie (inklusive Vibratoren) kaum das Verständnis zwischen den beteiligten Menschen einen Qualitätssprung macht. Sexualität ist die Kommunikationsform des Menschen. Dafür brauchen wir Offenheit, interessierte Augen und die Innigkeit der Liebe. Gleitcremes und unter Drogen gesetzte Pornofunktionspuppen, die beim Saugen an den Besenstiel denken, führen nur zu einer noch weiteren Eingrenzung und Verzerrung von Sexualität.
Wer sich jetzt verliebt, klagt im Herbst vielleicht schon wieder über Langeweile. Kann man dieses Gefühl mit irgendwelchen Substanzen verlängern? Multivitaminsaft?
Verlängerungssubstanzen gibt es weder für die Regulation des Gemächtes beim Manne, noch für einen vorzeitigen Samenerguß, geschweige denn für ein anderes psychisches Produkt: das Verlieben. Mancher Multivitaminsaft schmeckt durchaus, und es wird auch in unserer Demokratie möglich sein, mittels einer gekauften Expertise den Liebesverlängerungswert eines Multivitaminsaftes zu belegen. Aber entweder verwechselt mich die Redaktion mit einer plappernden Funktionspuppe des Privatfernsehens namens Frau Erika, oder der Redakteur ist ein fixierter Öko...
Weder fixiert noch Öko, Herr Wawerzonnek. Also: Verlieben?
Wer angst- und zweckfrei liebt, hat einen ständigen Frühling der Liebe und des Verliebens. Verlieben bedeutet Affinität und ist eine Option, Liebe ist Wissen.
Vielen Dank und frohe Ostern. Interview: CC Malzahn
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