: Sachsenhausen und die Wende
Der Zerfall historischer Mythen und aus der kommunistischen Ära stammender Tabus haben den Weg für eine breite konzeptionelle Aufarbeitung der Mahnmale aus der Kriegszeit in den neuen Bundesländern eröffnet/ Das Sonderlager Nummer7 und eine neue Interpretation der Nachkriegsdiktatur ■ Von Paul Hockenos1
Oranienburg im Februar (taz) — Von der S-Bahn Schönhauser Allee in Ostberlin liegt Oranienburg eine gute halbe Reisestunde entfernt. Wenn die Stadt nicht so nahe an der ehemals (groß)deutschen Hauptstadt gelegen wäre, würde Oranienburg sich in trauter Gemeinschaft mit unzähligen unscheinbaren und verschlafenen Kleinstädten der Ex- DDR befinden.
Aber bereits 1936, als die Welt die Olympischen Spiele von Berlin feierte, war der Bau des Konzentrationslagers von Sachsenhausen in vollem Gange. Im Verlauf der Naziherrschaft sollten an den Bürgern Oranienburgs 200.000 Menschen vorbeiziehen, die von Berlin aus den Weg in das KZ nahmen und von denen nur die Hälfte jemals aus dem mit Stacheldraht umzäunten Gefängnis von Sachsenhausen lebend wiederkehren würde.
Heute, inmitten der Einsamkeit von schneebedeckten Kiefern steht die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen als ein Zeugnis der Verbrechen des faschistischen Deutschlands und als mahnende Erinnerung an seine Opfer. Doch gleich anderen Gedenkstätten wie denen in Brandenburg, Ravensbrück oder Buchenwald, um nur einige zu nennen, befindet sich Sachsenhausen in einem Statuswandel. Der Zerfall historischer Mythen und Tabus aus der kommunistischen Ära haben den Weg für eine breite konzeptionelle Aufarbeitung der Mahnmale aus der Kriegszeit in den neuen Bundesländern eröffnet.
An diesem Tag streift nur eine Handvoll von Touristen aus dem Westen über das öde Gelände der Gedenkstätte und besichtigt die übriggebliebenen Baracken und Wachtürme. Eine Gruppe gut eingemummelter Studenten aus Norwegen widersteht tapfer der Kälte während der Führung. Mit dem Aufheben der obligatorischen Muß-Besuche für lokale DDR-Schulgruppen finden nur noch wenige Ostler den Weg in das Memorial.
Inmitten der langen Betonmauern, die das Camp im Dreieck einfassen, wird die Barbarei seiner ehemaligen SS-Kommandeure deutlich ins Gedächtnis gerufen. Grieslige Schwarz-weiß-Fotografien zeigen im Lagermuseum ausgemergelte Gefangene, die zusammengepfercht in mit Stroh ausgelegten Betten hausen, aufgeschichtete, verstümmelte Körper, Räume mit abgetrennten Gliedmaßen, Kinnladen und Haaren gefüllt. Draußen, im eisigen Wind, werden die im Lager praktizierten Foltermethoden — Hängen am Pfahl, „Stehen“, „Zellen-Bauen“ — zum fürchten nachvollziehbar.
Jedoch hinter der Ehxibition des Horrors ist der Widerspruch von politischer Ideologie, implizit neuer deutscher Identität, unverkennbar. Die Ausstellung ist noch immer in die orthodoxe DDR-Sprache gekleidet. Die Rolle des „big business“ wird nachdrücklich akzentuiert, die noch im Westen lebenden Naziverbrecher betont, und der heroische Kampf der deutschen Antifaschisten glorifiziert.
Im Turm A, der auf der Basis des Lager-Triangels steht, sitzt der Direktor von Sachsenhausen, Johann Hirthammer in einem Büro, in dem seine „Vorgänger“ ebenfalls „residierten“. Aus einem großen Fenster überschaut man von seinem Schreibtisch aus das unheimliche Lagerterrain. Der seit 1986 im Amt befindliche Direktor gibt zu bedenken, daß längst überfällig gewordene Veränderungen in der Konzeption der Gedenkstätte nunmehr eingeleitet sind. „Alles in allem ist die Präsentation viel zu reduktiv.“
Da Sachsenhausen gegenwärtig mehr ein Relikt aus der DDR ist als eins aus dem Dritten Reich, sind Veränderungen tatsächlich im Gange. Eine neue Broschüre, herausgegeben von der Westberliner Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, sorgt für ein objektives historisches Gleichgewicht im Gegensatz zur plumpen Ausgabe von 1961. Die lebensgroßen Bilder von Erich Honecker und Sachsenhausen-Gefangenem Horst Sindermann wurden abgenommen.
Hirthammer räumt ein, daß die aktuelle Umgestaltung des Lagers nur zögernd vorangeht. „Die Opfer der Rassenideologie der Nazis zum Beispiel müssen realistisch und jedes in seiner Identität porträtiert werden.“, sagt er. „Das breite politische Spektrum des Widerstandes, der Christen oder der Sozialdemokraten, muß ebenfalls wahrheitsgemäß dokumentiert werden.“
So wie es jetzt um die Ausstellung bestellt ist, wird Westdeutschland als lebender Überrest der faschistischen Vergangenheit, die DDR hingegen als Verkörperung des „deutschen antifaschistischen Geistes“ skizziert. Der Faschismus wird dergestalt als Bewegung ausschließlich gegen den Kommunismus gerichtet geschildert. Das Museum für antifaschistischen Freiheitskampf der europäischen Völker verherrlicht einseitig den „klassenbewußten Kern der internationalen Résistance, die Kommunisten“. Die Opfer des SS-Terrors werden in erster Linie und zumeist als Kommunisten dargestellt. Unter der heftigen Propaganda blieb das Ausmaß der hingeschlachteten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und anderen Menschen tragisch im Dunkeln.
Den (Ost)-Deutschen ist Absolution erteilt. Die Verantwortung für den Nationalsozialismus wird den Naziführern und -funktionären zugesprochen. Weniger als eine erklärbare politische Ideologie mit einheimischen sozialen Wurzeln wird der Faschismus als eine Bewegung beschrieben, die das deutsche Volk „überkam“. Die Schautafeln dämonisieren die SS-Verbrecher und konstruieren eine stark überbetonte Distanz zwischen deren (un)menschlichen Taten und der Mittäterschaft des Durchschnittsbürgers.
Sonderlager 7: Bei weitem eine der kontroversesten Veränderungen, die in Sachsenhausen stattfanden, ist die hinzugekommene Ausstellung Sonderlager 7. Von 1945 bis 1950 wurde Sachsenhausen als sowjetisches Internierungslager für Nazi-Kriegsverbrecher sowie für politische Gegner der sowjetischen Okkupationsmacht. Von den grob geschätzten 60.000 Gefangenen, die durch das Sonderlager Nummer7 von Sachsenhausen gingen, Sozialdemokraten, linke Kommunisten und aufs Geradewohl festgenommene politisch Verdächtige waren es 20.000 bis 30.000 Insassen, die vor Hunger und Schwäche umkamen.
Dieses Lager, das ab August 1945 erneut funktionierte, nachdem der letzte KZ-Häftling im April Sachsenhausen verlassen hatte, wurde in zwei Zonen eingeteilt: Eine für Nazi- Strafgefangene und eine zweite für „Personen ohne Verurteilung“. Zur Internierung reichte mitunter der bloße Verdacht aus, bei der Verurteilung erkannte ihn das sowjetische Militärtribunal SMT als Beweis an.
Das Lager hatte in der Praxis noch eine dritte Funktion. Es wurde zur Ausgangsstation für Deportationstransporte in die Sowjetunion. Erste Entlassungen gab es zwischen 1946 und 1947. Im März 1950 waren die letzten Häftlinge entweder entlassen oder in die Sowjetunion deportiert worden.
Kurz nachdem die Mauer im Herbst 1989 gefallen war, fanden sich ehemalige Gefangene des sowjetischen Internierungslagers zusammen, um mit dem wohlabgeschotteten DDR-Tabu „Nachkriegsfunktion von Sachsenhausen“ zu brechen. Nachbarn führten Militärangehörige der NVA zu Massengräbern, die rund um das Memorial verteilt lagen. Die sterblichen Überreste der Opfer wurden exhumiert. Heute markieren dünne Holzkreuze diese Orte.
Das Archiv des Lagers ist mit der Schließung von Sachsenhausen nach Moskau verbracht worden, so daß die heutige Ausstellung nur eine spärliche Sammlung von früheren „internen“ Zeugnissen zeigt. Die Fotografien und Akten von etwa einem Dutzend ehemaliger Gefangener säumen die Wand. Einge hatten Posten in der NSDAP inne, andere wiederum waren Jugendliche, die unter dem Verdacht standen, den „Wehrwölfen“ angehört zu haben. Wieder andere, die als Bürger einfach von der Straße weg verhaftet wurden, kamen als gebranntmarkte „Agenten des amerikanischen Imperialismus“ hierher.
Neben den Tafeln hängt eine Liste: „Wer kennt?“. Sie enthält die Namen von rund 30 Menschen, die im Zeitraum von 1945 bis 1950 verschwanden und deren Schicksale bis heute unbekannt geblieben sind.
„Die Internierungslager sind gehören Nachkriegsgeschichte, die dokumentiert werden muß“, sagt Hirthammer. „Die Ausstellung, wie auch immer, stellt sich dem Problem, unschuldige Opfer des Stalinismus von wirklichen Nazi-Kriegsverbrechern zu unterscheiden. Wir können nicht einfach alle Internierten von Lager7 über einen Kamm scheren.“
Der erweiterte Rahmen des Sachsenhausen-Memorials hat aber auch einen Aufschrei früherer Inhaftierter, Gefangener während der Naziherrschaft, provoziert: Das Internationale Sachsenhausen-Komitee hat gegen die Aufnahme der Schautafeln über das Sonderlager Nummer7 protestiert: Damit werde von den von der SS im Lager verübten Greueltaten abgelenkt.
„Sachsenhausen wird in erster Linie ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus bleiben,“ sagt der Direktor. „Es besteht ein sowohl quantitaver als auch qualitativer Unterschied zwischen der wohlkalkulierten Massenvernichtung und Folter während der Naziherrschaft und der Verbrechen der Diktatur der Nachkriegsära. Das muß klar in den zur Schau gestellten Fakten und Ausstellungsvitrinen zum Ausdruck kommen.“
Jedoch unter der Administration des mit Finanzen karg ausgerüsteten neuen Landes Brandenburg sieht sich Sachsenhausen mit Budgetkürzungen konfrontiert. „Die neuen Länder können nicht einmal für ihre täglichen Grundbedürfnisse das nötige Geld aufbringen, geschweige denn für unsere Erneuerungen,“ sagt resignierend Hirthammer. Ein Vorschlag sieht vor, daß die drei Gedenkstätten in Brandenburg von einer Stiftung getragen werden sollen, die auch private Spender für die Gedenkstätten finden soll. Der Mitarbeiterstab von 57 Angestellten in Sachsenhausen wird wohl zusammenschrumpfen müssen, jedoch die Existenz von Sachsenhausen ist nicht in Gefahr.
Das Schicksal von Karriere-SED- Funktionären wie Hirthammer, wie auch immer, sieht weniger hoffnungsvoll aus. Alle in Sachsenhausen Beschäftigten werden einen Fragebogen ausfüllen müssen und im April wird über ihre Zukunft entschieden.
Die neue Orientierung von Sachsenhausen wird mit Gewißheit unter politischen Druck geraten. Konservative politische und akademische Kreise favorisieren eine Reinterpretation der Vergangenheit, die eine direkte Linie der historischen Kontinuität vom Faschismus zum Kommunismus zeichnet. Mit der Gleichstellung der beiden totalitären Systeme entlasten die Konservativen das heutige Deutschland von der gesamten moralischen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust.
In der Gedenkstätte des deutschen Widerstandes „Das andere Deutschland“ sind Zeugnisse von einer weiteren, anderen historischen Interpretation der Naziära präsent: Die Gesichter von Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck sind mit schwarzer Farbe ausgelöscht. Derselbe Federstrich hat „Gegen“ und „Nieder“ aus Photographien der antifaschistischen Propagande gestrichen, die da lauten: „Gegen Hitler für Freiheit und Frieden“ und „Nieder mit Hitler“.
Die Vereinigung ist ein willkommennes Vehikel, um beide Perioden der Geschichte hinter den neuen deutschen Staat zu „entsorgen“. In nächster Zukunft wird Sachsenhausen vielleicht wieder eine halbe Stunde von der (groß)deutschen Hauptstadt entfernt sein. Es bleibt zu hoffen, das sein Vermächtnis für kommende Generationen lebendig bleiben wird.
1 Der Autor ist Amrikaner und lebt in zur Zeit in Budapest
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