: Das Medienereignis fiel aus
■ Aufhebung der Visumpflicht: Der erwartete Massenandrang der Polen blieb aus/ »Ganz normaler Montag« in der Einkaufsmeile Kantstraße
Berlin. »Massenansturm an deutsch- polnischer Grenze«, meldete 'dpa‘ gestern kurz nach Mitternacht. »Bis 43 Kilometer Warteschlangen« sah die Nachrichtenagentur noch um 4.14 Uhr am Grenzübergang Görlitz, bis sie endlich am frühen Nachmittag korrigierte: »Nicht nur Görlitz blieb von Polen-Ansturm verschont.« Der von den Medien herbeigeschriebene Massenandrang nach Berlin und anderswo fand nicht statt, diesmal war auf den Mechanismus der self fulfilling prophecy kein Verlaß. Auch die Züge aus Polen waren gestern früh bloß zur Hälfte belegt, nur einige hundert Reisende entstiegen müde ihren Abteilen. »Vielleicht kommen die meisten mit dem Auto«, vermutete ein Reichsbahnsprecher angesichts von Fahrkartenpreisen von 190 DM im Schnitt.
Doch viele Blechkisten mit den schwarzen Nummernschildern waren im Stadtbild nicht zu sehen. In der Nähe der Straße des 17. Juni, die mit Parkverboten für polnische Reisebusse gepflastert worden war, parkten zwei, drei Busse — auch nicht mehr als sonst. Auch der Polenmarkt am Potsdamer Platz gähnte öd und verlassen. Keine Menschenschlange vor Aldi, kein Gedrängel in der»Warschauer Allee« alias Kantstraße: Die enttäuschten Berliner mußten diesmal auf die Bestätigung ihrer mehr oder weniger ressentimentsgeladenen Klischees verzichten. »Ein ganz normaler Montag«, konstatierte eine Verkäuferin in den zahlreichen Import-Export-Läden der Kantstraße. Triste lehnte der Besitzer von »City Electronics« an seiner Ladentür, vergeblich auf Touristenbusse wartend.
Frustriert waren auch die Journalisten, die den wenigen polnischen Einkäufern hinterherjagten. »Das angekündigte Feature fällt aus«, meldete 'dpa‘ am Mittag. Langeweile herrschte bei der zweiten Gruppe professioneller Beobachter, die in Polizeiwannen und Seitenstraßen stationiert wurden. Warum eigentlich so viel überbordende Aufmerksamkeit? »Als präventive Maßnahme«, so ein Polizeisprecher. Früher habe es in den »stärker frequentierten Supermärkten« doch immer »Probleme« gegeben. But times they are changing. Daß ein solcher Massenandrang wie vor der deutsch- deutschen Vereinigung nicht mehr stattfinden würde, dürfte denkenden Menschen bekannt gewesen sein. Schließlich sind unter anderem die billigen Einkaufsmöglichkeiten im Osten weggefallen und dafür die Bahn-, Bus- und Benzinpreise in Polen enorm angestiegen. Dennoch ist es natürlich weiterhin möglich, daß am kommenden Wochenende mehr Polen Lust auf Berlin verspüren. »Wie in Deutschland müssen auch in Polen die meisten Leute heute arbeiten«, belehrte ein Einreisender einen Journalisten, der das vielleicht noch nicht wußte. usche
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