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Warteschleife wird sozial abgefedert

Verfassungsgericht weist Klage der füheren DDR-Staatsbediensteten ab, macht aber soziale Auflagen/ Mißachtung des Mutterschutzes verfassungswidrig/ Kläger sehen einen Teilerfolg  ■ Aus Karlsruhe Erwin Single

Die sogenannte „Warteschleifenregelung“ des Einigungsvertrags, mit der mehrere hunderttausend Beschäftigungsverhältnisse ehemaliger DDR-Staatsbediensteter zunächst ruhen und später auslaufen sollen, ist im Prinzip verfassungskonform, verstößt aber in einem Punkt gegen das Grundgesetz. Das entschieden gestern die Richter des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Für Frauen, die nach geltendem Mutterschutzrecht unkündbar waren, stelle die Warteschleifenregelung eine „unzumutbare Härte“ dar und verstoße damit gegen die Berufsfreiheit und den zu gewährleistenden Mutterschutz. Die Karlsruher Richter mahnten darüberhinaus Staat, Länder und Kommunen an ihre Sozialstaatspflicht: Die neuen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes seien verpflichtet, besonders schwer Betroffenen wie Schwerbehinderten, älteren Arbeitnehmern und Alleinerziehenden eine begründete Aussicht auf eine neue Stelle zu bieten; auch nach Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse müsse ihnen bei der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben geholfen werden — etwa mit Fortbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten.

Mit rund 300 Verfassungsbeschwerden hatten sich betroffene frühere Staatsangestellte der ehemaligen DDR, unterstützt von der Gewerkschaft ÖTV, gegen die „Warteschleife“ zur Wehr gesetzt. Insbesondere die Aufhebung des Kündigungsschutzes werteten die Kläger als Verstoß gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit, die persönliche Handlungsfreiheit, das Sozialstaatsgebot und — weil es nur den öffentlichen Dienst betreffe — gegen das Gleichbehandlungsgebot. Nach dem Einigungsvertrag konnten Einrichtungen der öffentlichen DDR-Verwaltungen aufgelöst werden. Die dort Beschäftigten sollten für höchstens sechs Monate, die über 50jährigen maximal neun Monate lang 70 Prozent ihrer früheren Bezüge erhalten. Diejenigen, die während dieser Frist nicht übernommen werden oder keine neue Arbeitstelle finden, gelten automatisch als entlassen — und zwar ohne daß es einer Kündigung bedarf. Für die 600.000 betroffenen Arbeitnehmer, so die Kläger, ein „Fallrohr in die Arbeitslosigkeit“.

Die Regelung greife zwar in das Grundrecht der freien Wahl des Arbeitsplatzes ein, so das Gericht in seiner Begründung, sei aber wegen des höher zu bewertenden Gemeinschaftsinteresses gerechtfertigt. Nach dem Beitritt der DDR müsse dort rasch eine moderne, effektive und rechtstaatlich arbeitende Verwaltung aufgebaut werden; durchgreifende Reformen und erheblicher Personalabbau seien dabei unvermeidbar. Gegen Ende ihres 40seitigen Urteils verneinen die Richter, daß die Kläger in ihrer Menschenwürde verletzt worden seien: „Der absehbare Verlust ihrer Arbeitsplätze beraubt sie nicht ihrer persönlichen Würde. Ihr wirtschaftliches Existenzminimum ist nicht bedroht.“ Immerhin würden sie noch Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe erhalten.

Nach Auffassung der ÖTV wird die Warteschleifenregelung regelmäßig zur Auflösung von Arbeitsverhältnissen auch solcher öffentlicher Verwaltungen mißbraucht, die anschließend in anderer Form weitergeführt wurden. Hier gaben die Richter den Klägern Recht: Abgewickelt werden dürfe nur, wenn die Einrichtung auch tatsächlich aufgelöst wird. Kläger-Anwalt Zindel kündigte nach dem Urteil an, nun werde bei jeder Einrichtung geprüft, ob diese habe aufgelöst werden dürfen; die Ansprüche auf Wiedereinstellung sollen in Arbeitgerichtsverfahren durchgesetzt werden. Zindel, der mit dem Urteil das Ziel der Kläger erreicht sieht, schätzte die Zahl auf eine halbe Million Anspruchsberechtigter.

Teilerfolg für alle

Sowohl Kläger als auch Beklagte sahen gestern in dem Urteilsspruch eine Bestätigung ihrer Positionen. Die Regelung im Einigungsvertrag sei grundsätzlich bestätigt worden. Die Vermeidung sozialer Härten müßte nun durch Einzelfallprüfungen geschehen, erklärte der Staatssekretär im Innenministerium, Franz Kroppenstedt. Auch Innenminister Schäuble, Spiritus rector des Einigungsvertrags und oberster Dienstherr der Bundesbediensteten, war zufrieden. Bonn respektiere, daß das Gericht die Beachtung der mutterschutzrechtlichen Kündigungsbeschränkungen für erforderlich halte. Die Bundesregierung werde auch bei der Besetzung von Arbeitsplätzen im Bundesdienst soziale Härtefälle „im Rahmen des Möglichen“ besonders berücksichtigen. Die Gewerkschaft ÖTV wertete den Karlsruher Spruch als „einen wichtigen Teilerfolg“. Allerdings schränkte der stellvertretende ÖTV—Vorsitzende Wolfgang Warburg ein: „Dem Fallrohr in die Arbeitslosigkeit wurde nur ein schwacher Riegel vorgeschoben.“ Gleichwohl hätten die Verfassungsrichter deutlich gemacht, daß die Warteschleifenregelung nur unter erheblichen Auflagen zu halten war. SPD und FDP in Bonn bescheinigten — wenn auch aus unterschiedlichen Gründen — den Karlsruher Richtern eine kluge Entscheidung.

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