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Ein Aufstand findet nicht statt

■ Am fünften Jahrestag von Tschernobyl wird in Berlin nicht einmal demonstriert/ Was vor fünf Jahren geschah, und was aus der Anti-AKW-Bewegung geworden ist

Berlin. Am 26. April 1986 ahnt in Berlin noch niemand, daß in dem kleinen russischen Ort Tschernobyl die größte Katastrophe in der Geschichte der Atomindustrie beginnt. Erst drei Tage später wird der Unfall bekannt. Der damalige Umweltsenator Jürgen Starnick (FDP), der zwölf Tage im Amt ist, erklärt, daß kein Grund zur Beunruhigung bestehe. Weitere drei Tage später werden in West-Berlin 24.000 Liter radioaktiv belastete Milch aus Nauen sichergestellt. Am 7. Mai sind die Berliner mit 10 Millirem bestrahlt — das ist ein Drittel der zugelassenen Jahresdosis. Für Blattgemüse wird ein Ernte- und Verkaufsverbot ausgesprochen. Kleinkindern und Schwangeren wird geraten, sich nicht auf Wiesen zu tummeln und Freibäder zu meiden. Schüler werden mit dem Auto in die Schule gefahren, um sie bei möglichen Regenfällen vor der Kontamination zu schützen. »Der Aufstand ist angesagt«, erklärt ein Anti- AKW-Aktivist bei einem Plenum im Ökodorf.

Auch fünf Jahre später hat der Aufstand in Berlin nicht stattgefunden. Am heutigen Jahrestag von Tschernobyl wird nicht einmal demonstriert. Bettina Gierke, eine der letzten Anti-AKW-Aktivistinnen, erklärt, daß schon im letzten Jahr nicht genügend Leute auf die Straße gegangen wären — eine Minidemo zu Tschernobyl sei aber peinlicher als gar keine. Man könne die Leute nur auf die Matte bringen, wenn es um das eigene Hemd ginge, stellt Gierke fest, die sich mit ihrem Verein »Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung« für die Kinder in Belorußland einsetzt. »Wenn die Leute den Genozid von Tschernobyl begreifen, dann gehen sie auch gegen die jetzigen Atomkraftwerke hoch«.

Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung ist eine von einem halben Dutzend Anti-AKW-Initiativen, die heute noch in Berlin aktiv sind. Zusammen mit dem Ableger im Ostteil der Stadt »Kinder von Tschernobyl« organisieren sie vier Projekte in dem russischen Gebiet. Sie helfen bei der Umsiedlung eines Teils von 2,3 Millionen Menschen, leisten medizinische Hilfe, organisieren die Erholung für Kinder in unbestrahlten Gebieten und bauen derzeit vor Ort ein Projekt auf, daß Kinder mit unbelasteter Nahrung versorgen soll.

Auch das »Anti-AKW-Büro« im Ökodorf gehört zu den Übriggebliebenen. Das Büro bemüht sich um Aktionen gegen Atomtransporte nach Gorleben und auch gegen die Transporte des HMI, die übernächstes Jahr beginnen werden. Es hat sich bereits in Greifswald engagiert und will die Öffentlichkeit in das ehemalige DDR-Endlager Morsleben (bei Gorleben), in das Wasser eindringt, locken. Das Büro versucht, die Aktivitäten von Anti-Atom-Gruppen zu koordinieren. diak

Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung e. V. 1/44, Hertzbergstraße 14, Tel: (West) 6811591

Kinder von Tschernobyl 1020, Rosa-Luxemburg- Straße 19, (Ost) 2826745, 2806403

Anti-Atom-Büro c/o Ökodorf, 1/30, Kurfürstenstraße 14, Mo. und Mi. 17-19 Uhr, Tel: 2616252

Anti-Atom-Gruppe Steglitz/Friedenau, 1/41, Nachbarschaftscafé Fregestraße 52, Treffen jeden Mi. 20 Uhr

Unabhängige Strahlenmeßstelle 1/21, Turmstraße 13, Tel.: 3948960

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